Sinfonie des Todes
verschwunden. Stattdessen lag eine geräumige altmodische Saffianbrieftasche auf der Sitzfläche des Sessels. Das schwarze Portefeuille war künstlich genarbt und mit einem Klemmöffner versehen. Ein abgestandener, modriger Geruch entströmte ihm und der Sektionsrat blickte sich verwundert nach seinem Bruder um. Weder hatte er ein Öffnen der Tür noch sonstige Geräusche gehört. Er gab sich einen Ruck. Mit tippelnden Schritten näherte er sich der Tasche. Ein wütendes Lächeln verzerrte auf einmal sein Gesicht, als er nach ihr griff.
Er zog den Verschluss auf, spürte dabei, wie sich das feine, weiche Ziegenleder an seine Handflächen schmiegte. Robert fuhr mit den Fingern in den Beutel hinein, tastete mit den Fingerspitzen die Innenseite ab, bemerkte die Stellen, an denen das Leder nur fahrlässig appretiert worden war, und erschauderte voller Ekel. Als er die Hand wieder aus der Tiefe der Tasche zog, hatte sich die Schere eines Skorpions daran verfangen. Der Sektionsrat betrachtete das Tier mit einer Mischung aus Verblüffung und Unbehagen. Nur undeutlich konnte er den Ansatz des Vorderkörpers erkennen, während der zweigeteilte Hinterleib mit seiner schwanzartigen Verlängerung ihm offenkundig vor Augen trat. Robert hielt sich die Hand vor das Gesicht, beugte sich zu dem Tier vor, um es besser betrachten zu können, und sah die Kieferklauen in grotesker Vergrößerung vor sich.
Der Skorpion fixierte ihn mit seinem Augenpaar und der Sektionsrat fühlte immer stärker den Druck, den die Scheren an seinem Handballen verübten, bis ihm das Blut über die Handfläche rann und zu Boden tropfte. Ein schauerlicher Aufschrei, bar alles Menschlichen, entrang sich seiner Brust, als über den Kopf des Ungeheuers hinweg der Stachel zum Einsatz kam und sich in sein Fleisch bohrte. Alle entsetzlichen Eindrücke dieses Augenblicks durchwühlten Fichtners Geist, ließen ihn erstarren und geradewegs auf die Diele fallen. Es war ihm, als täte sich für einige Sekunden etwas vor ihm auf, ein Licht oder zumindest ein kleiner Funke, der seine Seele erhellte, doch dann herrschte nur noch eine tiefe und dunkle Finsternis um ihn herum. Ab und zu öffnete er noch die Augen und konnte beobachten, wie der muskulöse Schlund des Vieches wie eine Pumpe den breiigen Fetzen, der eben noch Haut, Sehnen und Fleisch an seinen Fingerknochen gewesen war, in den Magen saugte.
Als Robert Fichtner langsam erwachte, kam er noch ziemlich lange nicht zu vollem Bewusstsein. Erst nach zwei Stunden begann der Sektionsrat allmählich zu verstehen, dass er in seiner Wohnung nackt hingestreckt auf dem Boden lag, neben ihm eine Lache Erbrochenes, deren säuerlicher Geruch ihm in die Nase fuhr. Er hustete, kam mühsam auf die Beine, zog sich an und schleppte sich zum nächstbesten Sessel, in den er sich erschöpft fallen ließ.
Fichtners Blick schweifte durch den Salon. Keine Spur von einem Skorpion, auch keine Saffianbrieftasche. Einzig umgekippte Möbel und der Gestank von Tabak, Galle und halbverdauten Nahrungsresten. Durch die geöffneten Vorhänge drang die Helligkeit des neuen Tages, und das hereinfallende Licht ließ warm und belebend die Staubpartikel in der Luft tanzen.
Er hielt sich den Schädel, da dieser pochte, als ob man ihm mit einem Hammer gegen die Stirn geschlagen hätte, und verfluchte in einem geheiligten Zorn den Meraner Kurgast, der ihm die Pilze angedreht hatte. Darauf trottete er ins Badezimmer, wo er Wasser ins Lavabo einlaufen ließ und sich das Gesicht wusch. Als er sich gerade daranmachen wollte, den Unrat der vergangenen Nacht wegzukehren, vernahm Fichtner erneut ein Klingeln an der Haustür.
Erfüllt von melancholischen Gedanken schlurfte er zum Eingang.
»Robert?«, klang es dumpf durch das dicke Holz der Tür. »Robert Fichtner? Bist du da? Hier ist von Warnstedt. Mach auf, Robert, es ist wichtig!«
3. Kapitel
Wilhelms Blick hatte sich getrübt, seine Augen brannten. Ein heiseres Husten schüttelte ihn schmerzhaft und rief ein unangenehmes Stechen hervor. Seine Mitspieler erkannte er nur noch vage durch den rauchgeschwängerten Raum, der Alkohol hatte sich in seinem Kopf festgesetzt und den Körper in dichten Nebel gehüllt. Er rieb sich über die Stirn, betrachtete das Blatt, das er in der Hand hielt, und seufzte tief. Eine kleine Chance hatte er, eine winzig kleine – seine letzte.
Die Nacht war schon längst hereingebrochen. Die Petroleumlampe, an einer Kette über dem Tisch hängend, verströmte trübes
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