Sinfonie des Todes
Licht, die Schatten in den Ecken erschienen tief und unergründlich. Sie saßen alle schon seit Stunden in diesem engen, kleinen Zimmer, spielten, rauchten, tranken und sprachen wenig.
»Na, Wilhelm? Was ist? Setzt du was?«
Die Stimme klang wie aus weiter Ferne an sein Ohr. Er musste mitgehen, musste das bisschen Geld, das ihm noch übrig geblieben war, in die Mitte des dunklen, mit Flecken übersäten Tisches legen. Langsam hob er seinen Blick und sah Otto Schlözer, der ihm gegenübersaß, ins Gesicht. Es ekelte ihn vor der Feistigkeit, der Schwammigkeit, die er an diesem Menschen wahrnahm. Kleine, stechende Augen fixierten ihn, ein amüsiertes Lächeln umspielte dünne, von einem mächtigen gezwirbelten Schnauz verunstaltete Lippen, über die sich selten ein freundliches Wort verirrte.
Wilhelm Fichtners Hand zitterte, als er die letzten zerkratzten Kronen und einen stattlichen Wechsel nach vorn schob. Er nahm einen kräftigen Schluck aus seinem halb leeren Weinglas und spürte, wie die Flüssigkeit warm die Kehle hinunterrann und die Mattigkeit in seinen Gliedern verstärkte. Er wollte nach Hause, sehnte sich nach seinem Bett, nach Schlaf, nach Vergessen. Er wünschte sich das Ende des Spiels herbei, egal, wie es ausgehen mochte.
Gustav Wissel neben ihm, ein dünner, nervöser Mann mit einer kreisrunden Glatze, kicherte. »Wilhelm, Wilhelm, du lernst es nie! Gegen mich kannst du nicht gewinnen«, schnarrte er mit schriller Stimme und setzte einen für ihn beträchtlichen Betrag. Die Haarlosigkeit des Gesichtes von Gustav verstärkte den Eindruck der weichen Konturlosigkeit seines Körpers. Wilhelm spürte, wie sich kalter Schweiß auf seiner Stirn bildete. Unvermittelt fröstelte ihn, obwohl die Luft im Raum stickig und heiß war.
Die Tür hinter Fichtner öffnete sich knarzend und eine junge Frau, die Tochter ihres Gastgebers Schlözer, trat zu ihnen an den Tisch, um die Gläser nachzufüllen und nach weiteren Wünschen der Männer zu fragen. Ihre strähnigen Haare streiften kurz Wilhelms Schulter, als sie sich über ihn beugte, um ihm Wein einzuschenken. Er roch ihr aufdringliches Parfum, war sich ihrer schweren, ungewaschenen Brüste im Rücken bewusst und verspürte plötzlich den unbändigen Drang aufzustehen und aus dem Zimmer zu rennen. Übelkeit kroch in ihm hoch, sein Kopf pochte unerträglich. Er sagte sich, dass er unter keinen Umständen noch mehr Alkohol trinken durfte.
Otto Schlözer räusperte sich laut, legte seine Karten mit triumphierendem Grinsen vor sich hin und verschränkte siegesgewiss die Arme. Gustav kicherte erneut, diesmal völlig unkontrolliert und leicht hysterisch. Er zeigte sein Blatt und hob kurz die Schultern, wie um sich dafür zu entschuldigen, dass er nicht mithalten konnte. Der vierte Spieler, Kurt Leyser, ein besonnen wirkender, freundlicher Zeitgenosse, warf seine Spielkarten enttäuscht auf den Tisch.
Alle sahen zu Wilhelm, der mit großen Augen die Karten der anderen betrachtete, sein eigenes Blatt noch einmal studierte und dann langsam die Hand sinken ließ. In seinen Ohren begann es zu rauschen, er erhob sich und langte mit unsicherem Griff nach der Stuhllehne, um sich darauf abzustützen. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er seinen Mantel, schlüpfte hinein und knöpfte ihn zu. Den Hut setzte er nicht auf, sondern drehte ihn erst ein paar Mal in den Händen, hob ihn dann kurz zum Gruß und verließ mit weichen Knien den Raum.
Wilhelm Fichtner hatte verloren; er war verloren.
Die Treppe zum Ausgang kam ihm unendlich lang und gefährlich steil vor. Er hangelte sich am Geländer nach unten und versuchte, die schwankende Umgebung gedanklich zum Stillstand zu bringen, doch es gelang ihm nicht. Oben öffnete sich nochmals die Tür zum Zimmer, das er soeben verlassen hatte, und Schlözer füllte mit seiner massigen Gestalt den Rahmen aus. Fichtner konnte nur dessen schwarze Silhouette erkennen, da das Licht von hinten an Otto vorbei in das dunkle Stiegenhaus drang.
»Wilhelm, vergiss deine Schulden nicht! Meine Geduld lässt sich nicht allzu lange strapazieren, hörst du?«
Der Verlierer reagierte nicht. Er hatte den Ausgang erreicht und trat ins Freie.
Wilhelm Fichtner fühlte sich wieder etwas nüchterner, als er an seinem Haus angekommen war und die wenigen Stufen zur Terrasse erklomm. Vielleicht würde er sogar imstande sein, einigermaßen würdevoll seiner Frau gegenüberzutreten, doch er vermutete, dass sich Lina sowieso schon längst zu Bett begeben hatte.
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