Sinfonie des Todes
seine Muskeln verkrampften sich unaufhörlich, um im Körper wenigstens ein bisschen Wärme zu erzeugen. Er sehnte sich nach einem Bett, nach Wärmflaschen, Tee und dicken Wollsocken. Die Stufen der Eingangstreppe schienen ungewöhnlich hoch zu sein, da ihn die Müdigkeit nach unten zog und all seine Glieder zentnerschwer erscheinen ließ. Cyprian verfluchte in diesem Moment seinen Beruf und wünschte sich nichts sehnlicher, als bald in Urlaub gehen zu können und mit Katharina irgendwo im warmen Süden eine Auszeit zu genießen.
Ein kaum wahrnehmbares Geräusch im Innern des Hauses ließ ihn aufhorchen und in den Bewegungen innehalten. Angespannt lauschte er einige Sekunden. Er hörte die schlurfenden Schritte einer Person, die sich langsam von links durch die Halle auf die Tür zu bewegte.
Der Inspektor überquerte die Veranda und rief: »Frau Fichtner, sind Sie das?« Keine Antwort. Da trat eine Gestalt in sein Blickfeld, ob deren bizarren Aufmachung er erschrak. Der Mann vor ihm trug einen braunen Mantel, dessen Vorderseite über und über mit Blut besudelt war. Er hielt eine Tüte in der Hand und starrte ihn mit einem solch obskuren Ausdruck in den Augen an, dass der Inspektor unwillkürlich zurückwich.
»Sie ist tot«, sprach Gustav Wissel mit einer leisen, fast kindlich klingenden Stimme. »Ich durfte sie nicht lieben. Das war unrecht, ein unreines Gefühl.« Mit den Fingern der freien Hand griff sich Gustav an die Unterlippe, wie wenn er angestrengt nachdenken müsste. »Das war nicht gut, dass ich sie lieben wollte. Nein, gar nicht gut. Aber das Weib töten, das wäre in Ordnung gewesen, das weiß ich, ja.«
Warnstedt erschrak. »Mein Gott! Was haben Sie getan? Haben Sie Lina Fichtner umgebracht?«, fragte er den verwirrt wirkenden Mann vor sich.
Ein finsteres Grinsen verzerrte Wissels Gesicht. »Diese Frau ist des Teufels. Sie verkörpert das Böse, denn sie machte mich zum Mörder. Und jetzt – jetzt vereitelte sie mir sogar die Rache.« Zähnefletschend fügte er hinzu: »Ich durfte sie nicht töten. Nicht einmal das.«
Cyprian wollte an ihm vorbei ins Haus, doch Wissel versperrte den Eingang und schien nicht gewillt, ihm den Weg freizumachen. »Lassen Sie mich hinein«, bat der Inspektor eindringlich. Wie in Trance bewegte sich Gustav ein wenig zur Seite und ließ ihn eintreten.
»Im Salon.«
Warnstedt verstand und betrat mit mulmigem Gefühl den besagten Raum. Sofort drehte er sich angewidert zur Seite, um Luft zu holen, als er das Ausmaß der Verwüstung erblickt hatte. Mühsam riss er sich zusammen und nahm den Schauplatz des Verbrechens näher in Augenschein. Überall war Blut; am Boden, auf der Ottomane, am Tischchen, an der Wand.
Die nackte Leiche lag zerfetzt neben der Tür.
Von Lina war nicht mehr viel zu erkennen. Das Fleisch hing ihr teilweise von den Knochen, etliche tiefe Schnitte, aber auch flüchtige Kratzer verunstalteten ihren gesamten Körper, und Cyprian kam das Gemälde im Schlafzimmer von Wilhelm in den Sinn, von dem die Frau strahlend schön herniederlächelt und jeden bezaubert, der sie betrachtet. Nichts war von der makellosen Gestalt übrig geblieben.
Gustav trat hinter ihn und sah sich ebenfalls um. In seinen Augen waren keine Gefühle zu erkennen. Allmählich wurde dem Inspektor bewusst, dass er unbewaffnet diesem Monster gegenüberstand.
»Haben Sie das getan?«, fragte Warnstedt und schluckte hart. Unvermittelt stiegen all die Emotionen in ihm hoch, die diese unsägliche Nacht geprägt hatten. Entsetzen, Trauer und Ekel mischten sich mit der Müdigkeit und der körperlich wie seelisch spürbaren Kälte, die ihn mit steifen Fingern umklammert hielt.
»Ich musste verhindern, dass ich sie begehre, und habe sie ihrer Schönheit beraubt.«
Fassungslos starrte Cyprian den Menschen an, der sich an seine Seite gestellt hatte, um Linas Überreste mit stumpfen Augen zu betrachten, und dabei keinerlei Erregung, keine Schwäche zeigte.
Voller Abscheu presste der Beamte hervor: »Sie Bestie, Sie Ungeheuer! Sie sind wahnsinnig.«
Ein scharfes Lachen erfüllte den Raum.
Als Gustav Wissel endlich wieder verstummt war, fixierte er Cyprian und entgegnete klar und ruhig: »Wahnsinnig? Wissen Sie, was Wahnsinn ist, Herr Inspektor von Warnstedt? Sind Sie schon einmal damit in Berührung gekommen? Diese Frau«, fuhr er fort und zeigte auf die verstümmelte Leiche, »diese Frau hat mich in den Irrsinn getrieben. Sie hat mich angesteckt mit Sehnsüchten, die unerfüllt geblieben
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