Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Singularität

Singularität

Titel: Singularität Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
Vom Netzwerk:
gewann und er es in den Rücksack schob. »Spielen
wir jag das Karnickel«, sagte er und machte die Tür
auf.
    Es war ein strahlend schöner, kalter Morgen und der Boden in
dem verlassenen Wirtschaftshof knöcheltief mit glucksendem
Matsch bedeckt. Wie der Stumpf eines vom Blitz oder Zorn Gottes
getroffenen Baumes duckte sich weiter drüben die
schwärzliche Ruine des Bauernhauses in den Morast. Dahinter wies
ein Streifen staubigen grauen Lehmbodens auf eine entwässerte
Schicht hin: Hier hatten die Nanosysteme des Festivals die Erde von
Spurenelementen gesäubert und getrocknet und etwas Riesiges
errichtet, das höchstwahrscheinlich mit dem plötzlichen
Verschwinden des Bauern und seiner Familie in Verbindung stand.
    Das eigentliche Dorf lag etwa zwei Kilometer
hügelabwärts, hinter einer Biegung des schmalen Sandwegs,
jenseits eines Hains mit hohen Kiefern. Felix schulterte seinen
Rucksack, blieb kurz stehen, um gegen die vom Brand geschwärzte
Hauswand zu pinkeln, und machte sich danach langsam auf den Weg.
Eigentlich hatte er Lust zu pfeifen oder zu singen, aber das
unterließ er wohlweislich. Man konnte ja nicht wissen, was in
diesen Wäldern lebte, und er wollte Mr Rabbits Warnungen nicht
in den Wind schlagen. Felix war ein überaus ernsthafter kleiner
Junge und für sein Alter sehr erwachsen.
    Der Rabe folgte ihm hüpfend, flatterte aber bald darauf mit
heftigem Flügelschlag davon, um sich irgendwo entlang des Wegs
in einem Graben niederzulassen. Wiederholt senkte er den Kopf:
»Frrrüh-stück!«, krächzte er.
    »O prima!« Felix beeilte sich den Raben einzuholen. Doch
als er sah, was er zum Essen aufgetrieben hatte, wandte er sich auf
der Stelle ab und drückte sich, um den Würgereiz zu
unterdrücken, fest auf die Nasenwurzel, bis Tränen kamen.
Er tat sich schwer damit, Tränen zu vergießen. Vor langer
Zeit und sehr weit entfernt von diesem Ort hatte eine Amme ihm
eingetrichtert: »Große Jungs weinen nicht!« Aber
inzwischen wusste er es besser. Er hatte noch viel größere
Jungs, sogar Männer weinen sehen, als man sie an die mit
Kugeleinschlägen übersäte Wand gestellt hatte. (Manche
von ihnen hatten nicht geweint, sondern waren steif und aufrecht
stehen geblieben, aber letztendlich hatte das keinen Unterschied
gemacht.) »Manchmal hasse ich dich, Rabe.«
    »Krah?« Der Rabe sah zu ihm auf. Das Ding im Graben trug
immer noch die Kleidung eines kleinen Mädchens. »Bin
hungrrrig.«
    »Kann ja sein, aber ich muss Pjotr finden. Ehe die
Possenreißer uns erwischen.« Felix blickte nervös
über seine Schulter. Während der letzten drei Tage waren
sie voller Panik davongerannt, den Possenreißern immer einen
Schritt voraus. Die Possenreißer kamen nur langsam voran, weil
sie häufig gegen einen unsichtbaren Wind kämpften oder sich
den Weg durch ein nicht mit Händen greifbares Gebäude
ertasteten, aber sie kannten keine Gnade. Niemals schliefen sie,
niemals zwinkerten sie, niemals machten sie irgendwo Rast.
    Als Felix und der Rabe weitere hundert Meter auf das Dorf
zugegangen waren, erwachte das Telefon zum Leben. Es maunzte wie ein
neugieriges Kätzchen, bis Felix im Rucksack kramte und es
herausholte. »Lass mich in Ruhe!«, schrie er entnervt.
    »Felix? Hier ist Mr Rabbit.«
    »Was?« Bestürzt blickte er auf das Telefon, dessen
glänzendes Chrom mit ölverschmierten Fingerabdrücken
übersät war.
    »Ich bin’s, dein Freund mit den Schlappohren. Ich bin im
Dorf. Hör zu, komm keinen Schritt näher.«
    »Warum nicht?« Er runzelte die Stirn und ging
weiter.
    »Sie sind hier. Mein Glück hat mich verlassen. Ich
glaube nicht, dass ich diesmal davonkomme. Du…« Die Stimme
des riesigen Nagetiers brach plötzlich und klang einen
Augenblick lang völlig unmenschlich: Es war ein durchdringendes
Kreischen zu hören, bei dem sich Wut und Angst mischten.
»Die sind auch hinter dir! Geh querfeldein. Lauf,
Junge!«
    Das Telefon summte, die Leitung war tot. Felix hob es wütend
hoch und hätte es am liebsten auf den Boden geschmettert, besann
sich jedoch. Der Rabe. Er stand mit blutigem Schnabel vor ihm
und starrte ihn aus Knopfaugen an. »Flieg übers Dorf«,
befahl Felix ihm. »Und berichte mir, was du dort
siehst.«
    »Krah!« Der Rabe trippelte schwerfällig über
das Gras, nahm Anlauf, um sich in die Lüfte zu schwingen, und
stieg bis über die Baumgipfel empor. Erneut betrachtete Felix
das Telefon, wobei sein Blick Kummer und Wut verriet. Es war einfach
nicht fair, nichts war fair! Er hatte doch nur

Weitere Kostenlose Bücher