Die Stimme des Nichts
1
»Er ist nicht tot – aber passen Sie wegen der geflügelten Schlange auf.«
Die diensttuende Ärztin am Reides Central, die den jungen Mann auf der schnell rollenden Krankenliege besah, verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Welche geflügelte?«
Der eilige Meditech, der die Krankenliege schob, deutete auf die sich in langsamen Atembewegungen hebende und senkende Brust des Patienten. »Sie hat sich unter seinem Hemd zusammengerollt, neben dem linken Arm auf den Rippen. Hat sich da versteckt, als wir ihn mitgenommen haben. Streckt ab und zu mal kurz den Kopf raus, aber mehr nicht. Sie wird nicht abhauen. Hat auch noch keinem was getan – bislang. Fast als würde sie spüren, dass wir ihm helfen wollen.«
Die Ärztin der Notaufnahme nickte knapp, während sie neben der Krankenliege herlief. »Ich werde sie bestimmt nicht anfassen. Warum wurde sie nicht eingefangen, bevor man den Patienten zu uns gebracht hat?«
Der Meditech sah sie von der Seite an. »Quickref sagt, es ist ein alaspinischer Minidrache. Die binden sich emotional an ihren Besitzer. Wenn Sie wüssten, was man mir erzählt hat, kämen Sie gar nicht erst auf die Idee, die beiden voneinander zu trennen.«
Sie bogen um die Ecke, wichen einem Stasisstuhl aus und eilten den Gang hinunter. »Auch das noch«, murmelte sie. »Als würden uns nicht schon genug Hindernisse in den Weg gelegt.« Sie beugte sich ein wenig über die reglose Gestalt, konnte aber an der bezeichneten Stelle keine Bewegung sehen. »Dann ist sie also gefährlich, wie?«
Der Meditech schob die Liege geschickt in einen leeren Überwachungsraum. »Offenbar nur, wenn man die beiden zu trennen versucht. Oder wenn der Minidrache denkt, dass man seinem Herrn etwas tun will.«
»Wir wollen ihm helfen, genau wie all den anderen, die man uns gebracht hat.«
Sowie die Sensoren die Ankunft der Krankenliege wahrnahmen, begannen ein Dutzend verschiedener Geräte mit dem Patientenscan, der automatischen Standardvoruntersuchung. Sie ignorierten die fliegende Schlange ebenso wie die ordentliche, saubere Kleidung des Patienten. Die Ärztin trat von der Liege zurück und betrachtete ihr Pad, auf das die Ergebnisse eines nach dem anderen lautlos übertragen wurden. Gleichzeitig wurde ein Duplikat in die Krankenhausakten eingefügt.
Der Meditech blickte sie nachdenklich an. »Soll ich lieber hierbleiben?«
Die Ärztin schaute von ihrem sanft leuchtenden Pad auf, aber nur um den Patienten zu betrachten. »Das liegt bei Ihnen. Ich werde mich jedenfalls vor der Schlange hüten.« Seit sie wusste, dass das Tier da war, sah sie auch, wie sich die leichte Wölbung unter dem Hemd des Patienten ab und zu bewegte. »Wenn es Schwierigkeiten gibt, alarmiere ich den Sicherheitsdienst.«
Nickend wandte sich der Meditech zum Gehen. »Wie Sie wollen. Wahrscheinlich werde ich sowieso in der Aufnahme gebraucht.«
»Wie viele sind es?«, fragte die Ärztin, ohne ihn anzusehen.
»Zweiundzwanzig. Haben sich alle im selben Teil des Einkaufszentrums aufgehalten, jeweils nur ein paar Meter voneinander entfernt. Zeigten alle dieselben Symptome: scharfes Luftholen und Verdrehen der Augen, dann kippten sie um – bewusstlos. Erwachsene, Kinder, Männer, Frauen – zwei Thranx, ein Tolianer, ansonsten Menschen. Keine äußeren Verletzungen, keine Hinweise auf einen Schlaganfall oder Herzinfarkt, nichts. Als wären sie alle gleichzeitig in Schlaf versetzt worden. Das ist es auch, was die amtlichen Zeugenberichte sagen. Die stimmen durchweg überein.«
Die Ärztin machte eine geistesabwesende Geste. »Es wird ein, zwei Minuten dauern, bis die Zentraleinheit mit der Aufnahme dieses jungen Mannes fertig ist. Als Erstes werden wir die Patientendaten miteinander vergleichen, um vielleicht noch andere Ähnlichkeiten zu ermitteln, damit wir versuchen können, ein paar Faktoren zu bestimmen. Ich wäre überrascht, wenn es nicht einige gäbe.« Und leiser fügte sie hinzu: »Besser wäre es jedenfalls.«
Schon halb durch das Portal blieb der Meditech noch einmal stehen. »Virale oder bakterielle Infektion?«
»Nichts, was dem widerspräche, aber es ist noch viel zu früh, um das zu sagen.« Sie blickte von ihrem Pad auf, um ihn anzusehen. Die Sorge stand ihm auf der Stirn geschrieben. Er suchte deutlich nach irgendetwas Beruhigendem. »Bei bloßer Schätzung würde ich sagen, keins von beidem. Der Wirkungskreis war zu scharf begrenzt. Das Gleiche gilt für narkoleptisches Gas. Und es gibt keine offensichtlichen
Weitere Kostenlose Bücher