Sirenenlied
durch den Kopf, dass sich gerade ein weiterer großartiger Morgen in die Abfolge vieler anderer großartiger Morgen seit Beginn des Frühjahrs einreihte. Sogar die Sonne ließ sich an diesem Junitag blicken, was einem wahren Wunder gleichkam. Nach und nach suchte er sich alles für ein ausgiebiges Frühstück zusammen, dann wollte er bei Logan vorbeischauen und hören, ob nun mit der Dau zu rechnen sei. Ansonsten würde er tatsächlich einmal bei Mrs. MacMillian wegen des Lagers anklopfen. Seine Haushaltskasse konnte es gebrauchen, er war in den letzten Monaten zu sehr neben sich gestanden, um sich mit etwas anderem als mit der Tatsache zu beschäftigen, dass er entgegen aller Wahrscheinlichkeit immer noch festen Boden unter den Füßen hatte. Leise summend, spazierte er durch den Raum und wartete darauf, dass die Kaffeemaschine mit ihrem Geschnaufe fertig war, da war ihm plötzlich so, als würde sein Summen erwidert.
Ein ferner, heller Gesang, nicht mehr als ein Echo, trotzdem waren die einzelnen Worte klar zu verstehen: »Wonder where she’s gone this time.«
Josh blieb erstarrt stehen, während sich die Strophe aus »Ain’t No Sunshine« ein ums andere Mal wiederholte. Wind fuhr durch das offene Küchenfenster ins Black House und brachte den Geruch von Meer mit sich. Er streifte Joshs nackte Brust mit zärtlichen Fingern. Der Gesang, der ein feines, bittersüßes Ziehen in seinem Inneren auslöste, wehte jedoch nicht von draußen herein, sondern kam von dem Bild bei seinem Bett. Wie magisch angezogen hielt Josh darauf zu.
Das Bild war nicht länger ein Bild, sondern ein Ausblick in eine andere Welt. Das Wasser funkelte einladend, so wie das Meer an diesem Sommertag vermutlich tatsächlich im Sonnenlicht glitzerte, wenn man hineintauchte. Es würde wunderbar sein, hineinzugleiten, seine frische Kühle zu spüren, sich seiner treibenden Bewegung zu überlassen.
Josh ertappte sich dabei, wie er die Hand ausstreckte, um wenigstens seine Fingerspitzen zu benässen. In diesem Moment sah er ein helles Aufblitzen in der Tiefe. Nur für einen Herzschlag.
»Eines Tages«, erklang die Stimme der Sirene.
Rasch wich Josh zurück und rieb die Hände über seine Oberarme, um das verführerische Kribbeln loszuwerden. Er schüttelte verneinend den Kopf, während seine Lippen ein lautloses Ja formten. Er biss sich auf die Unterlippe und wollte schon das Gemälde von der Wand reißen, dann entschied er sich anders.
»Nur aus der Ferne, meine Schöne«, erklärte er dem auf Leinwand gefangenen Stück Meer. »Nur aus der Ferne.«
Tauchen Sie ein in die phantastische Welt von Tanja Heitmann …
INTERVIEW MIT TANJA HEITMANN
Tanja Heitmann schrieb sich mit ihren düster-romantischen Geschichten in die Herzen Tausender Leserinnen und Leser und zählt inzwischen zu den erfolgreichsten deutschen Mystery-Autorinnen. Ihr Debütroman Morgenrot stand monatelang auf allen Bestsellerlisten, und auch in den Nachfolgeromanen Wintermond und Nachtglanz erschafft Tanja Heitmann eine Welt, in der uns dunkle Geheimnisse, dämonische Wesen und der Glaube an die große Liebe in ihren Bann ziehen. Im nachfolgenden Interview gewährt die Autorin einen Blick hinter die Kulissen.
Ihr erster Roman Morgenrot erzählt von der gefährlichen Liebe zwischen der Studentin Lea und dem überirdisch schönen Vampir Adam. Was hat Sie zu der Geschichte inspiriert?
Inspiriert hat mich Adam höchstpersönlich, der sich vollkommen überraschend in meinen Kopf eingeladen hat, um mir seine Geschichte zu erzählen. Von einer Sekunde zur nächsten stand er mir lebendig vor Augen. Adam ist
eine sehr geheimnisvolle und gleichzeitig eigensinnige Gestalt. Das hat mich derartig fasziniert, dass ich tatsächlich den Mumm aufgebracht habe, mich hinzusetzen und seine Geschichte aufzuschreiben. Obwohl »seine« Geschichte eigentlich nicht ganz richtig ist, denn meine Heldin Lea hat nicht lange auf sich warten lassen. Ihr gelingt es, hinter Adams Maske zu blicken. Lea auf diesem schwierigen Weg zu begleiten, war mindestens genau so spannend, wie Adam kennenzulernen.
Adam ist kein gewöhnlicher Vampir, sondern er muss seinen Körper mit einem Dämon teilen, der ihm zwar das ewige Leben schenkt, dafür aber einen Preis verlangt. Auch in Wintermond hat der geheimnisvolle David mit einem Dämon zu kämpfen, der seine Seele in Besitz nimmt. Was fasziniert Sie so am Thema Dämonen?
Sowohl meine Vampire als auch meine Wölfe sprechen davon, einen
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