Sirenenlied
gellendes »Nein!« erreichte ihn jedoch nicht mehr.
Eisiges Wasser umspülte ihn, riss ihn mit sich, bis er ins Stolpern geriet und in die Tiefe eintauchte. Seine Kleidung sog sich voll und zerrte schwer an ihm, während ihm salziges Nass in Augen und Nase drang. Seine Kehle schmerzte protestierend, weil Wasser anstelle von Luft in sie eindrang. Josh versuchte, es wieder auszuspucken, verschluckte dabei jedoch nur noch mehr. Verzweifelt suchten seine Hände nach Halt und seine Füße nach Grund, doch um ihn herum war nur Meerwasser, das sich wie etwas Lebendiges bewegte.
Und tatsächlich verwandelte sich die kühle Strömung in warmen Atem auf seinen Wangen. Unvermittelt streiften Finger über seine Haut, dann legten sich Hände um seine Hüften und zogen ihn an einen geschmeidigen Körper. Er ließ ihn die Kälte vergessen, die ihm eben noch hatte die Glieder steif werden lassen. Lippen senkten sich zu einem Kuss auf seine Lippen, hauchten Sauerstoff in seinen schmerzenden Brustkorb. Wie von Sinnen erwiderte Josh den Kuss, in der festen Überzeugung, dass sein Leben davon abhing.
Trotzdem brachte ihn die Sirene schließlich dazu, von ihrem Mund abzulassen. Die Arme fest um ihn geschlungen, lehnte sie sich lächelnd zurück und begutachtete ihn wie einen Schatz, den sie wider Erwarten doch noch errungen hatte. Mit brennenden Augen starrte Josh zurück, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
»Flüstere mir das Zauberwort ins Ohr, das mich an dich bindet«, forderte die Sirene ihn mit einer lieblich singenden Stimme auf, in der das Versprechen mitschwang, dass seine größten Begierden erfüllt werden würden.
»Und wenn nicht?« Zu seiner Überraschung klangen Josh seine eigenen Worte in den Ohren, obwohl seinem Mund nichts anderes als ein Schwall Salzwasser entkam.
Die Sirene legte den Kopf in den Nacken und blinzelte nach oben, dorthin, wo sich vielleicht die Wellen brechen mochten. Aber Josh sah nur Dunkelheit. Das einzige Helle und Warme in dieser endlosen Unterwasserwelt war die Sirene.
»Nun, du könntest natürlich probieren, ob du es bis an die Grenze meines Reiches schaffst. Bislang hat diesen Aufstieg noch keiner gewagt. Warum auch, da ich doch alles zu bieten habe, was ein Mann begehrt?«
»Ja, warum könnte ein Mann nur versuchen, dir zu entkommen?«
Unmut flammte auf den Zügen der Sirene auf, dann entschied sie sich, dass das fordernde Reiben ihrer Schenkel, der Druck ihres Busens gegen seine Brust und vor allem das schallende Lachen, das sie ausstieß, eine bessere Wirkung erzielen würde. Schließlich hatte es, seit Männer über das Angesicht der Erde wandelten, funktioniert. Auch dieser junge Insulaner würde sich der Gesetzmäßigkeit nicht entziehen können. Dafür war die Macht des Sirenenliedes zu groß.
Und tatsächlich legte Josh seinen Widerwillen gleich einem Mantel ab, in dem es ihm von einer Sekunde zur anderen zu heiß geworden war. Ungestüm erwiderte er die Umarmung, überließ sich dem Strudel, der sie beide immer tiefer unter Wasser zog. Er ergab sich den Verführungskünsten
der Sirene so vollständig, dass er nicht einmal mehr nach ihren Lippen suchte, als der Druck in seinen Lungen zu steigen begann. Fast war es, als wollte er seinen Untergang noch beschleunigen.
»Meinen Namen«, forderte die Sirene. Erst noch mit ihrem verführerischen Timbre, dann eindringlicher. Doch das Einzige, was sie von dem jungen Mann bekam, waren Liebkosungen.
Schwärze breitete sich in Josh aus, gegen die nicht einmal die erregende Hitze ankam, die die Sirene ausstrahlte. Er wusste, woher sie stammte. Nicht einmal die machtvolle Illusion konnte diese Tatsache übertünchen: Er ertrank. Wenigstens verspürte er die Genugtuung, dass die Sirene nicht ihren Willen bekam. Bevor er ein Träumer im Bann einer Sirene wurde, gab er lieber eine ordentliche Wasserleiche ab. Der Tod war besser als eine Ewigkeit im Reich des Wasserwesens. Wenn seine Brust nicht von diesem Brennen geplagt wäre, hätte er nur allzu gern ein Lachen ausgestoßen.
Die Bewusstlosigkeit griff nach ihm und dämpfte die mittlerweile hysterisch klingende Stimme der Sirene. »Du bist mein, ich lasse dich nicht gehen. Ganz gleich, um welchen Preis.« Ihr Ausruf dröhnte hinter seinen Schläfen, brachte seinen Schädel fast zum Explodieren.
Von wegen betörender Gesang, dachte Josh, heimgesucht von einer Müdigkeit, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nicht verspürt hatte.
Helle Flecken tanzten ihm vor
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