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Sirenenlied

Sirenenlied

Titel: Sirenenlied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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Augen. Tageslicht irgendwo über ihm. So wie sie ihm immer näher kamen, verlosch das Flehen der Sirene, ihr doch endlich einen Namen, eine Form zu geben, damit sie ihn in ihrem Reich behalten konnte. Das Licht wurde sogar derartig hell, dass
es sich wärmend auf seine Lider legte. Schön, wollte Josh sagen, öffnete ohne große Erwartungen den Mund... und atmete Luft ein.
    Einen Zug, dann noch einen, bevor sich eine weitere Welle über ihn erbrach und ihn in die aufgewühlte Brandung trug.
    Obwohl er kaum Kraft besaß, gelang es ihm, sich auf den Strand zu ziehen, die Finger fest eingegraben in den nassen Sand, dessen Berührung ihm unendlich tröstlich erschien. Das war der Halt, nach dem er sich sehnte. Er war an die Küste angeschwemmt worden, nicht weit entfernt von seinem Haus, wie er durch den vom Salzwasser verschleierten Blick erkannte. Mühsam kämpfte er sich Zentimeter für Zentimeter voran, getrieben von der Furcht, dass das Wasser ihn jeden Augenblick zurückholen konnte.
    Als dumpfe Schritte auf ihn zuhielten, gelang es ihm nicht einmal mehr, den Kopf anzuheben, weil er zu erschöpft war. Alles andere als zärtliche Hände griffen nach ihm, rissen ihn hoch. Ein Zittern durchfuhr seinen Körper und hörte auch nicht auf, als er sich aufbäumen und Meerwasser ausspucken musste.
    »Josh«, hörte er Eileen mit vor Tränen heiserer Stimme sagen. »Du lebst! Ich kann es kaum glauben. Dieses seelenlose Stück von einem kaltem Fisch hat dich im Cottage unter Wasser gezogen, und plötzlich war da wieder nur ein Steinboden. Ich bin fast wahnsinnig geworden, als ich den Boden nach einer Spur von dir abgesucht habe. Du bist ihr entkommen. Oh, mein Gott, du bist der Sirene wirklich und wahrhaftig entkommen!«
    Nein, dachte Josh. Nicht entkommen, sie hat mich gehen lassen, weil ich lieber ertrunken wäre, als bei ihr zu bleiben. Aber seine Kraft reichte gerade einmal aus, um
einen Blick zurück aufs Meer zu werfen. Es war immer noch dunkel und aufgewühlt vom Sturm, der sich jedoch bereits legte. Ein heller Leib bäumte sich unter der Oberfläche der Brandung auf, bevor er verschwand.
    »Nur für dieses Mal lasse ich dich gehen«, ertönte die Stimme der Sirene vom Wasser her.

13
    Im Hafen
    Ein azurfarbener Faden zog sich durch wüstes Tintenblau. Eine winzig kleine Abweichung, die Josh gerade erst entdeckt hatte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Da schaute er sich das Gemälde, das Finebird ihm vor seiner Abreise von Cragganmore geschenkt hatte, schon seit Wochen an und nach wie vor entdeckte er Überraschungen. Sofern man bei einem Bild, das ausschließlich das Meer von oben zeigte, von Überraschungen sprechen konnte. Nun ja, Eileen meinte, es wäre aus der Vogelperspektive gemalt. Für Josh sah es eher nach einer Unterwasserperspektive aus. Falls es diese Bezeichnung überhaupt gab. Aber das verschwieg er ihr lieber, weil er sie zum einen nicht beunruhigen wollte. Seit den Erlebnissen im anbrechenden Frühjahr rangierte das Meer auf Eileens Beliebtheitsliste ungefähr neben Tod und Teufel. Zum anderen irritierte es ihn, wie gut ihm - allen Vorkommnissen zum Trotz - der Gedanke gefiel, unter Wasser zu sein. Die Vorstellung eines anderen Lebens hatte sich in ihm eingebrannt.

    Es gab allerdings noch einen anderen Grund, warum Josh sich gern das letzte Meeresgemälde des alten Malers anschaute: Er vermisste ihn mehr, als er zuzugeben bereit war. Im Gegensatz zu Eileen und ihm hatte Finebird die Begegnung mit einer leibhaftigen Sirene nicht sonderlich gut verwunden. »Irgendwie traue ich dem Boden unter meinen Füßen nicht mehr«, hatte er Josh kurz vor seiner Abreise gestanden. »Man muss wohl altes Cragganmore-Island-Blut in den Venen haben, um das Meer nicht zu fürchten.«
    Als Finebirds letzte Habseligkeiten in den Lieferwagen verladen worden waren und Mawhiney vor dem Aufbruch noch eine Zigarette rauchen wollte, hatte er den jungen Mann beiseitegenommen.
    »Das Bild, das im Haus stehen geblieben ist, gehört dir und Eileen«, hatte der alte Maler gesagt. »Es ist das letzte seiner Art, ein eingelöstes Versprechen, wenn du verstehst, was ich meine. Damit ist mein Meereszyklus abgeschlossen. Verkauf es, wenn du es nicht in deiner Nähe haben willst. Ich würde es verstehen. Andererseits... mir gefällt der Gedanke, dass es in deinem Leben bleibt. Als Erinnerung, nicht nur an mich.«
    Josh hatte nur nicken können, denn seine Kehle war wie zugeschnürt gewesen.
    Seit jenem Tag hing das

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