Sirenenlied
Vergessenes in ihr geweckt, das sie nach wie vor nicht unter Kontrolle hatte, verflixt.
Offenbar war ihr die Verstörung anzusehen, denn Adam schüttelte amüsiert den Kopf.
»Es überrascht mich, ehrlich gesagt, dass die Erinnerung Sie in Verlegenheit bringt. Als Anders’ Dienerin sollten Sie an solche Szenen doch gewöhnt sein.«
»Das bin ich auch. Ich muss mich entschuldigen, denn es steht mir keineswegs zu, darüber zu urteilen.«
»Ich nehme es Ihnen auch nicht weiter übel, wenn Sie mir nun endlich Ihren Namen verraten.«
»Esther«, sagte sie nach kurzem Zögern.
»Nur Esther? Und dabei dachte ich immer, nur unsereins würde sich Künstlernamen zulegen.«
Unwillkürlich entschlüpfte Esther ein überraschtes »Oh«. Jetzt durfte sie auf keinen Fall die Nerven verlieren. Doch zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie sich Risse in ihre Fassade gruben. Das Herz schlug wild in ihrer Brust, und sie
konnte Adam ansehen, dass ihm dieser Umstand keineswegs entging.
»Wie kommen Sie bloß darauf, dass es sich um einen Künstlernamen handelt? Eine absurde Idee.«
Anstelle einer Antwort musterte Adam sie nur, dann steckte er die Hände in die Hosentaschen und blickte zu einem der bodentiefen Fenster hinaus.
Esther hatte im Laufe der Zeit viele von seiner Art gesehen, schließlich zog Anders sie an wie das Licht die Motten. Die meisten konnten den Dämon, der sie beherrschte, nur leidlich verbergen. Einige wenige erregten dagegen kaum Verdacht, wie etwa Rischka, die allerdings trotzdem nur selten von Anders’ Seite wich - nun, zumindest bis dieser Herr hier aufgetaucht war.
Man erkannte sie also nur, wenn man wusste, wonach man Ausschau halten musste. Mit dem Dämon zog eine Ausstrahlung ein, die fremdartig war. Als würde sein dunkler Heiligenschein durch die menschliche Hülle hindurchschimmern. Nur bei Adam war es anders. Er wirkte bedrohlich, als könne er sein Temperament kaum zügeln. Von dem Dämon war jedoch keine Spur zu erkennen. Zwar umgab Adam eine Fassade aus Distanziertheit, aber es war die eines Menschen, der niemanden zu nah an sich herankommen lassen wollte. Esther erkannte das deshalb so genau, weil sie sich oft des gleichen Mittels bediente.
Nun, da sich ihr Puls wieder beruhigt hatte, begann sie erneut: »Der Auftrag, mit dem Anders Sie betraut hat, dreht sich im Wesentlichen um …«
»Seit ich in L.A. angekommen bin, habe ich das Meer noch nicht gesehen«, unterbrach Adam sie, keineswegs grob, aber doch sehr bestimmt. »Ich glaube, es ist noch nicht zu spät für einen Ausflug.«
»Ich werde mich mit meinen Ausführungen beeilen.«
»Das ist nicht notwendig, obwohl ich nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn Sie schnell machen würden, Esther. Wenn man am Meer spazieren geht, gibt es nämlich nichts Besseres, als zu schweigen und den Wellen zuzuhören.«
Esther schnappte vor Verblüffung nach Luft. »Sie erwarten doch wohl nicht ernsthaft, dass ich Sie begleite?«
Allem Anschein nach doch, denn Adam hatte sich bereits umgedreht und schlenderte in Richtung Ausgang. Einen Moment lang überlegte sie, ob es sinnvoll war, ihn einfach ziehen zu lassen. Allerdings würde dann nicht nur Anders mit ihr unzufrieden sein … und außerdem kam ihr die Vorstellung eines Spaziergangs am Meer gar nicht so abwegig vor. Es wäre bedeutend leichter, mit diesem Mann zu sprechen, wenn man dabei aufs Wasser hinausblicken konnte, anstatt unentwegt in diese Katzenaugen sehen zu müssen. Obwohl alle Vernunft ihr widersprach, folgte sie Adam zum Ausgang des Hotels.
Winterfeuer
Der Strand lag verlassen da, nur in weiter Ferne konnte man die Umrisse von einigen Spaziergängern erkennen. Hundehalter oder vielleicht auch Eltern, die mit ihren Kindern umhertollten. Das Januarlicht war klar und schneidend, so dass Esther notgedrungen die Hand als Schattenspender zu Hilfe nehmen musste, wenn sie aufs glitzernde Wellenspiel sehen wollte. Zu Adams Enttäuschung hatte sie sich ein Tuch um den Kopf gebunden. Dabei hätte er gern
gesehen, wie der Wind diese Fülle aus blassem Rotgold zum Flirren brachte.
Während der Autofahrt war sie überraschend still gewesen, das Gesicht verschlossen wie eine Auster, und auch ansonsten hatte nichts an ihr etwas darüber verraten, was sie von diesem erzwungenen Ausflug hielt. Die perfekte Dienerin. Fast fühlte Adam sich herausgefordert, den spärlichen Spuren nachzugehen, die sie trotzdem unwillentlich über ihre Persönlichkeit preisgab. Doch er riss sich zusammen. Esther umwehte
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