Sirenenlied
ein Geheimnis, und er würde sich nicht an ihr versündigen, indem er es ihr gegen ihren Willen entriss. Was auch immer er bislang getan haben mochte, es hatte sie schon ausreichend gegen ihn aufgebracht.
Der Sand war nass und schwer, und Esther versank immer wieder mit den Absätzen. Adam reichte es vollkommen aus, neben ihr herzuschlendern und sie gelegentlich am Ellbogen zu stützen, was sie ihm mit einem gereizten Funkeln dankte. Auch das sollte ihm recht sein, denn auf diese Weise bekam er die Chance geboten, ihre grauen Augen zu betrachten. Jedes Mal spürte er der Empfindung nach, die sie in ihm wachgerufen hatten. Noch ein Geheimnis, aber von der süßen Art.
Zeitverschwendung , knurrte der Dämon. Ich will sie nicht - nicht ihr Blut, nicht ihren Körper. Sie ist vielleicht Anders’ Dienerin, aber sonst zu nichts zu gebrauchen.
Ehe Adam sich’s versah, hatte sich ein Lächeln auf seine Züge geschlichen. Noch nie zuvor hatte er die unüberwindbare Trennlinie zwischen dem Dämon und sich mehr begrüßt als bei diesen Worten. Hätte die Stimme ihm zugeraunt, dass sie Esther begehrte, hätte er ohne eine Erklärung kehrtgemacht und wäre direkt zum Flughafen
gefahren, um nie wieder zurückzukehren. Aber der Dämon wollte sie nicht - ganz im Gegensatz zu ihm, wie er sich zu seiner eigenen Verwunderung eingestehen musste.
Seit den Erlebnissen in Paris hatte Adam sich von Frauen, die ihn anzogen, tunlichst ferngehalten. Stets schwebte ihm die Gefahr vor Augen, der Dämon könnte die Gelegenheit nutzen, ein weiteres Mal nach der Alleinherrschaft zu greifen, sobald er sich fallenließ. Allerdings hatte auch noch nie eine andere Frau dieses berauschende Gefühl in ihm geweckt, das seine Vernunft einfach ausschaltete.
Esther war jene Art von kühler Schönheit zu eigen, die den meisten Männern zu viel Respekt einflößte, als dass sie sich zu Dummheiten wie einem Flirt hätten hinreißen lassen. Sie war recht groß, mit einer wohlgeformten Figur und ebenmäßigen Gesichtszügen. Einmal abgesehen von ein paar feinen Brüchen, die nur bemerkte, wer genau hinsah: Der Nasenrücken saß schief, und unter ihrem linken Auge verlief eine Narbe, die sie jedoch hervorragend zu überschminken verstand. Dafür passten diese Zeichen zu ihren angespannten Zügen. Auch von dem verträumten Blick, mit dem Adam sie in der Lobby angetroffen hatte, war seither nichts mehr zu sehen. Stattdessen prangte eine steile Falte inmitten der Stirn, die ihr etwas Strenges verlieh.
Mit der behandschuhten Hand hielt Esther den Kragen ihres Mantels zusammen. »Ich kann mich gar nicht entsinnen, wann ich zum letzten Mal das Meer gesehen habe. Im Sommer ist der Strand nicht der richtige Ort für mich, dann verbrenne ich mit meiner hellen Haut schon auf dem Weg vom Wagen hierher. Und im Winter kommt niemand auf die Idee, an den Strand zu gehen. Jedenfalls niemand,
den ich kenne. Es ist wunderschön, die Farben sind wie gemalt.«
»Sie nehmen es mir also nicht länger übel, dass ich Sie zu diesem Ausflug genötigt habe?«
»Dass Sie mich gezwungen haben, Ihnen hinterherzulaufen?« Esther zuckte mit der Schulter. »Nur ein wenig.«
Adam biss sich auf die Unterlippe, um ein Lachen zu unterdrücken. Sie war fuchsteufelswild wegen seines Benehmens, aber zu beherrscht, um das einzugestehen - dessen war er sich spätestens nach dieser Lüge sicher. Für Lügen hatte er einen Extrasinn.
Das grau schimmernde Meeresspiel, der dunstige Horizont, der Wind, der ihm Salz und den Duft nach Apfelblüten zuspielte, den Esthers Haut verströmte, bildeten den schönsten Augenblick, an den er sich erinnern konnte. Wann hatte er sich jemals so leicht gefühlt? Ihm war sogar nach einer Unterhaltung zumute.
»Woher stammt eigentlich Ihr Akzent? Normalerweise bin ich sehr gut im Erraten, aber Ihrer ist regelrecht verschleiert, als wollten Sie ihn nicht bloß loswerden, sondern geradezu vertuschen.«
»Haben wir in dieser Stadt nicht alle einen Akzent, den wir nur allzu gern hinter uns lassen würden?«, konterte Esther. »Ihr Englisch klingt schließlich auch wie aus dem Lehrbuch.«
Adam setzte bereits zu einer Entgegnung an, dann hielt er inne. Sie lässt sich nicht gern in die Karten blicken, stellte er amüsiert fest und musste im nächsten Moment seinen erwachten Jagdtrieb zügeln, der sich am liebsten auf diese scheue Beute gestürzt hätte. Bei diesem Spiel würde Adam sich jedoch allein schlagen, das verlangte nicht bloß sein Stolz. Dann sah Esther ihn
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