Sittenlehre
ganz auf dieses Detail. Sie trägt eine Brille. Sie rückt die Brille zurecht. Sie sieht, oder meint zu sehen, daß Capelán ganz leicht die Finger bewegt. Die Finger an der Hand auf Marrés Schulter. Möglicherweise hat er sie ganz leicht bewegt. Möglicherweise hat er sie an Marrés Schulter gerieben. María Teresa stellt den Blick scharf, allerdings ohne es sich anmerken zu lassen, um Capeláns Gesicht einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Es wirktebenso ausdruckslos wie das Iturriagas, der neben ihm Abstand nimmt und dabei die Anwesenheit Daciuks, unmittelbar vor ihm, nicht einmal wahrzunehmen scheint. Aber auf diesen Gleichmut, María Teresa weiß Bescheid, ist kein Verlaß. Schamlos üben sich die Schüler in der Kunst der Verstellung. Da tritt sie einen Schritt vor, ganz langsam. Jetzt befindet sie sich nicht mehr auf der Höhe Capeláns, sondern Marrés. Nicht Capeláns Gesicht erforscht sie nun insgeheim, sondern das von Marré. Und dabei bemerkt sie oder glaubt sie zu bemerken, daß Marré langsam die Augen schließt – eine Art Blinzeln, aber in Zeitlupe. Sie faßt es so auf – sie hat den Eindruck, daß es so aufzufassen ist –, daß die Art, wie Marré die Lider niederschlägt, Unbehagen verrät. Ganz sicher ist sie sich nicht, aber sie hat keine Zeit, um der Sache genauer auf den Grund zu gehen.
»Ist etwas, Marré?«
»Nein, Fräulein Aufseherin.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, Fräulein Aufseherin.«
»Gut.«
Und da erteilt Herr Biasutto den Befehl »stillgestanden«. Die Schüler nehmen die Arme herunter und blicken auf den Nacken des Vordermanns. Die Gänge des Colegio sind allezeit in ein gleichmäßig trübes Licht getaucht, wie an einem bewölkten Tag; ob draußen die Sonne scheint oder nicht, spielt keine Rolle. Zu den Seiten sind sie bis zu einer bestimmten Höhe grün gekachelt; darüber ist bloße Wand. Der nächste Befehl wird erteilt: »In die Klasse!«
In der Nacht – einer freudlosen Nacht – träumt María Teresa, obwohl sie seit jenem Moment nicht mehr darangedacht, das Ganze eigentlich vergessen hat, von Marrés Gesicht, dem Ausdruck darauf. Was sonst noch in dem Traum vorkam, könnte sie kaum sagen, eigentlich erinnert sie sich an gar nichts, bis auf das Bild eben, das aber ganz genau: das Gesicht des Mädchens aus dem Colegio, Marré heißt sie. Auch als sie schon ein Weilchen wach ist, auch nachdem sie das Bett gemacht, sich die Zähne geputzt, die Kleider zurechtgelegt, den Rosenkranz geküßt, sich das Haar zusammengebunden und den Vorhang aufgezogen hat, wundert sie sich noch immer ein wenig darüber. Dann schlüpft sie in einen farblosen Morgenmantel, den sie bis zum Hals zuknöpft, ganz bis oben, und geht in die Küche, wo die Mutter sie mit dem Frühstück erwartet. Das Radio ist an, wie immer steht es seitlich auf dem Tisch, gerade kommen die Nachrichten. Mutter und Tochter sagen guten Morgen.
»Hast du gut geschlafen?«
»Ja.«
Die Mutter setzt sich nicht mit an den Tisch. Wahrscheinlich hat sie schon gefrühstückt, vielleicht will sie gar nicht frühstücken. Sie ist damit beschäftigt, etwas für das Mittagessen vorzubereiten. Von dem brodelnden Wasser steigt ein starker, süßlicher Geruch auf, um diese Uhrzeit nicht besonders angenehm. Die Mutter überwacht den Kochvorgang, als ob neben Wärme und Zeit noch etwas anderes nötig wäre, damit Dampf aus dem Topf steigt. Keine der beiden sagt ein Wort, nur die Stimme des Nachrichtensprechers ist zu hören. Er gibt die folgenden Neuigkeiten bekannt: In Buenos Aires ist es heute bewölkt; die Seen im Palermo-Park werden umgestaltet; die Zahl der Kinobesucher ist gesunken; die Provinz Mendoza meldet Schneefälle, für die Jahreszeit zu früh; zweiholländische Wissenschaftler haben herausgefunden, daß Tiere träumen; Tagestemperaturen heute nicht über dreizehn Grad.
»Was riecht da eigentlich so?«
»Im Topf, meinst du?«
»Ja.«
»Rote Bete.«
Im Radio kommt jetzt Reklame: ein Lied über Uhren; jedesmal, wenn man denkt, es sei zu Ende, fängt es wieder von vorn an. Dann ohne Übergang Werbung für Aspirin.
»Magst du etwa keine rote Bete?«
»Weiß ich nicht.«
»Was heißt, weiß ich nicht?«
»Daß ich es nicht weiß.«
»Fang bloß nicht damit an, Marita, rote Bete hast du immer gerne gegessen.«
Unter der Vase mit den Plastikblumen liegt ein verschlossener Briefumschlag auf dem Tisch. Als María Teresa ihn erblickt, fragt sie – obwohl sie sich die Frage eigentlich selbst beantworten kann,
Weitere Kostenlose Bücher