Macabros 018: Knochentunnel in das Grauen
»Professor! Kommen Sie schnell!«
Josef Görtzner hob den Kopf und unterbrach seine Arbeit. Der
junge Mann, rund zehn Schritte von ihm entfernt, winkte aufgeregt und
kam eilig näher.
Görtzner hielt noch den Pinsel in der Hand, mit dem er einen
bizarr geformten Fund von uraltem Staub befreit hatte, nachdem er
zuvor mit Hammer und Meißel den Brocken aus dem Fels geschlagen
hatte.
»Warum so aufgeregt, Bernteis?« fragte der
fünfzigjährige Archäologe.
Bernteis stolperte über den Graben hinweg, der zwischen zwei
flachen Sockeln gezogen worden war und aussah wie eine uralte,
schmale Gasse.
Es war eine Gasse, und sie war mehr als zweitausend Jahre alt.
Die Öffentlichkeit wußte nicht allzu viel von den
Dingen, die sich in den Gurktaler Alpen in Kärnten
abspielten.
Vor zehn Jahren hatte es eigentlich schon begonnen.
Eine Gruppe Wissenschaftler unter Führung Professor
Görtzners traf damals hier ein und steckte ein etwa zweihundert
auf zweihundert Meter großes Quadrat ab, in dem Ausgrabungen
beginnen sollten.
Görtzner glaubte, einer großen Sache auf der Spur zu
sein.
Er vermutete in diesem Gebiet eine Ansiedelung der Kelten, wie sie
in ihrem Umfang einmalig sein sollte.
Seine Vermutungen bestätigten sich.
Nach zehn Jahren lag ein rund ein Quadratkilometer großes
Gelände frei, in dem man den Verlauf der Straßenzüge
und Gassen und die Anordnung der Häuser sehen konnte.
Wertvolle Funde, die von der Handwerkskunst des alten Volkes
zeugten, waren dabei gemacht worden. Außerdem stellte sich bei
den Ausgrabungen heraus, daß diese alte keltische Stadt, deren
Namen noch niemand wußte, offenbar auf den Mauerresten einer
noch älteren errichtet worden war.
Seltsame, bizarre Formen, als hätten Architekten von einem
fremden Stern hier Hand angelegt, wurden unter Bergen von Gestein und
uraltem Staub herausgelöst. Mit Feuereifer stürzte
Görtzner sich mit seiner kleinen Gruppe auf die Relikte einer
noch älteren Zeit.
Schächte und röhrenförmige Einschnitte fand man,
Krüge und Handwerkszeuge und einen großen Stollen, der
aussah wie ein Brunnen, und über dessen Zweck man
herumrätselte.
Der Schacht war tief und abgedeckt, um einen Unfall zu
vermeiden.
»Das hab’ ich in der Nähe des Schachts
gefunden!« rief Hans Bernteis von weitem. Er lief auf
Görtzner zu, ehe der Archäologe sich erheben und ihm
entgegenkommen konnte.
»Ich denke, ich soll kommen«, wunderte sich
Görtzner. »Wahrscheinlich denken Sie, der Alte ist doch
nicht mehr so gut zu Fuß, und Sie nehmen mir den Weg ab.«
Der Professor grinste. Lachfältchen bildeten sich um die
Augen.
»Sehen Sie sich das an, Professor!« Bernteis war
außer Atem. Er drückte dem Leiter der Gruppe einen
faustgroßen, ovalen Gegenstand in die Hand. »So etwas habe
ich noch nie gesehen. Diese Gesteinsart – die gibt es hier
überhaupt nicht…«
Grauer Staub und Schmutz der Jahrtausende klebten an dem
Objekt.
Es war schwer, und die Oberfläche fühlte sich an, als
wäre sie geschliffen. Wie ein überdimensionaler
Diamant.
Mit den Fingernägeln kratzte Görtzner die harte, graue
Schicht ab. Zumindest versuchte er es. Es erwies sich als sehr
schwierig.
»Sieht beinahe so aus, als hätten Sie ein Ei gefunden.
Vielleicht von einem Dinosaurier, hm?« scherzte der Professor.
»Die Größe jedenfalls kommt hin. Vielleicht
gab’s hier mal ’ne Drachenstadt. Wer weiß?«
Görtzner grinste. Er machte gern Witze dieser Art und sah dann
nicht so aus, als würde er sich ernsthaft Gedanken über
einen solchen Fund machen. Aber dieser Eindruck täuschte.
Der ovale Gegenstand, groß wie eine Männerfaust,
berührte sein Interesse in einem Maß, das man ihm nicht
ansah.
»Was kann das sein?« fragte Hans Bernteis. Er war
vierundzwanzig und hatte das Glück, an dieser Ausgrabung
teilnehmen zu können. Es war seine erste große
wissenschaftliche Arbeit nach dem Studium.
»Bernteis! Wenn ich das auf Anhieb wüßte,
hätte ich’s Ihnen garantiert schon gesagt. Ich weiß
es nicht. Ich kann es nirgends einreihen, mich nicht daran erinnern,
jemals so etwas in der Hand gehalten zu haben. Ah, sehen Sie
hier!«
Die Stelle, an der er geschabt hatte, verfärbte sich. Der
Gegenstand darunter war glatt und dunkelrot.
»Sieht beinahe aus wie ein überdimensionaler, erstarrter
Blutstropfen«, drängte sich Hans Bernteis der Vergleich
auf, noch ehe Görtzner etwas sagen konnte.
*
Es war kurz vor der Dämmerung, als Hans Bernteis den
rätselhaften Fund
Weitere Kostenlose Bücher