Sittenlehre
Juvenilia
Früher war dies – das Colegio Nacional – eine reine Knabenschule. Damals, zu jener weit zurückliegenden Zeit, zur Zeit des Colegio de Ciencias Morales , und erst recht davor, zur Zeit des Real Colegio de San Carlos , muß hier zwangsläufig alles eindeutiger und klarer gewesen sein. Ganz einfach: Die Hälfte dessen, was diese Welt heutzutage ausmacht, war noch nicht vorhanden. Diese Hälfte mit ihren Trägerkleidchen, ihren Haarbändern, -spangen und -schleifen, für die in der Schule eigene Toiletten und beim Sportplatz eigene Umkleideräume geschaffen werden mußten, diese Hälfte gab es früher, viel früher, zur Zeit eines Miguel Cané, eines Professor Amadeo Jacques schlicht und ergreifend nicht. Die Schule, das Colegio, war eine kompakte Sache, es gab nichts anderes als Jungen. Damals ging es hier bestimmt ruhiger zu, nimmt die Aufseherin der zehnten Obertertia wenigstens an, jetzt, wo ihre Aufmerksamkeit nachläßt, kurz vor Ende der zweiten Nachmittagspause. Wie alle wissen, heißt sie María Teresa; daß sie abends, bei ihr zu Hause, Marita genannt wird, auf die Idee käme wohl niemand. Das sind so die Gedanken María Teresas, wenn sie abschweift – was man der Aufseherin der zehnten Obertertia aber nicht anmerkt; von den zehn Minuten, die die zweite Nachmittagspause dauert, sind da schon mehr als acht verstrichen. Richtete man sich allerdings – das macht sich María Teresa nicht klar – immer noch danach, was währendjener Glanzzeit des Colegio die Norm war, könnte sie sich unmöglich an ihrem jetzigen Platz befinden; denn so wie damals keine weiblichen Schüler zugelassen waren, gab es natürlich auch keine weiblichen Lehrkräfte, geschweige denn weibliche Aufseher. Damals, anders als heute, war diese Welt nicht gespalten; damals mußte gegebenenfalls etwas ganz anderes unter einen Hut gebracht werden, wie man in Juvenilia nachlesen kann, einem der Klassiker unter den Büchern, die zum Lektürekanon dieser Schule gehören – die jetzigen Schüler sprechen den Titel, absichtlich oder aus Ahnungslosigkeit, falsch aus, hartnäckig reden sie immer nur von »Juvenilla«: Was erreicht werden mußte, war ein friedliches Miteinander der Schüler aus Buenos Aires und der Schüler aus dem Rest des Landes. Nicht selten kam es aus diesem Grund zu Streitereien, ja körperlichen Auseinandersetzungen, bei denen die Beteiligten sich alle möglichen Blessuren zuzogen, aber das war trotzdem nichts im Vergleich zu der heutigen Aufgabe, die darin besteht, Jugendliche männlichen und weiblichen Geschlechts im ständigen Miteinander zu überwachen. Daß die Jungen aus Buenos Aires sich mit denen aus der Provinz prügelten, war letztlich nichts anderes als Ausdruck einer tiefen Wahrheit der argentinischen Geschichte; in dieser Hinsicht erfüllte die Schule längst ihre Bestimmung: Sie sollte einen Querschnitt der ganzen Nation ergeben. Oder hatte Schulgründer Bartolomé Mitre seinerzeit Urquiza, den Mann aus Entre Ríos, in der Schlacht bei Pavón nicht endgültig und zum Wohle aller bezwungen? Hatte, noch davor, Juan Manuel de Rosas, der das Bündnis der Republiken seiner Tyrannei unterwarf, während der langen Zeit der Düsternis, die seine Herrschaft für Argentinienbedeutete, das Colegio etwa nicht schließen lassen? Bemühte sich Domingo Sarmiento, der Mann aus San Juan, nicht vergeblich darum, in diese Schule aufgenommen zu werden? Gelang dies dafür etwa nicht Juan Bautista Alberdi aus Tucumán, der sich dadurch für den Rest seines Lebens den Neid und die Mißgunst Sarmientos einhandelte? Daß Hauptstädter und Provinzler ihre Schwierigkeiten untereinander ausfochten, gehörte zur Geschichte dieser Schule, so wie es zur Geschichte dieses Landes gehörte. Miguel Cané nimmt in Juvenilia diesbezüglich kein Blatt vor den Mund. Daß die heutigen Schüler so über dieses Buch reden, wie sie es nun einmal tun – im Grunde nicht anders als ungebildete Menschen –, spielt keine Rolle; sie haben es gelesen, und sie wissen sehr wohl, was es bedeutet, daß das Colegio in gleicher Weise Jungen aus den nördlichen Provinzen Argentiniens wie auch aus der Stadt Buenos Aires aufzunehmen hatte. Dieses Zusammenleben friedlich zu gestalten war für jemanden wie Professor Amadeo Jacques – ein gebürtiger Franzose – oder einen Schulleiter wie Santiago de Estrada eine durchaus zu bewältigende Aufgabe. Aber diese Schule war damals eben eine reine Knabenschule. Ohne sich mit ihnen messen zu wollen, einfach bloß,
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