Sittenlehre
halbe Stunde. Anfangs ließ María Teresa dann immer alles stehen und liegen und ging zu ihrer Mutter, um sie zu trösten, aber Menschen wie ihre Mutter wollen gar nicht getröstet werden, deshalb lassen sie sich auch nicht trösten, weshalb sie sie schließlich lieber einfach weinen ließ, sollte sie sich doch ausweinen.
Pünktlich um zehn nach eins haben die Schüler zum Nachmittagsunterricht zu erscheinen; die Aufseher müssen schon ab halb eins dasein. Manche Aufseher arbeiten vormittags und nachmittags, nicht so María Teresa, sie arbeitet bloß nachmittags. Bis zur Schule braucht sie eine halbe Stunde, außer die U-Bahn hat mal wieder Verspätung. Um sich nicht hetzen zu müssen, verläßt sie um Viertel vor zwölf das Haus. Nicht selten weint ihre Mutter noch, wenn sie sich auf den Weg macht.
Manchmal – wenn der Studienleiter ein Treffen mit Herrn Biasutto und seiner Aufsehertruppe ansetzt – muß María Teresa bereits eine oder zwei Stunden früher erscheinen. Zwei solche Treffen gab es, seit sie als Aufseherin im Colegio arbeitet. Beim ersten Mal ging es um die Schüler, die sich außerhalb ihrer jeweiligen Unterrichtszeit im Schulgebäude befinden. Das kann durch den Stundenplan begründet sein, etwa wenn es um Unterricht in den Chemie- oder Physikräumen geht oder wegen des Schwimmunterrichts im Kellergeschoß, der Grund kann aber auch sein, daß ein Schüler die Schulbibliothek aufsucht, um etwas in einem Lehrwerk nachzuschlagen – in all diesen Fällen kann es sein, daß Schüler, die eigentlich am Vormittag Unterricht haben, sich auch am Nachmittag in der Schule einfinden, und umgekehrt, Schüler vom Nachmittagsunterricht am Vormittag. Was jedoch kein Grund ist – der Studienleiter unterstrich seine Worte mit einer Handbewegung; dabei zuckten seine Augenbrauen, mehrfach, ein Tic von ihm –, kein Grund, zuzulassen, daß die Schüler auf den Gängen herumstreunen oder ohne Sinn und Zweck die Treppen hinauf- und hinunterlaufen. Die Aufseher sind berechtigt, aber nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, Schüler, die allein im Colegioangetroffen werden, anzuhalten, sich ihren Ausweis aushändigen zu lassen, Lichtbild, Name und Unterrichtszeiten des betreffenden Schülers zu überprüfen und von Schülern, die normalerweise nachmittags Unterricht haben, aber vormittags angetroffen werden, wie auch von Schülern, die normalerweise vormittags Unterricht haben, aber am Nachmittag angetroffen werden, eine Erklärung zu verlangen. Nachdem der Studienleiter ihm durch Kopfnicken die Erlaubnis erteilt hatte, ergriff Herr Biasutto das Wort, um darauf hinzuweisen, daß einzig Erklärungen, die umstandlos und ohne merkliches Zögern seitens des Schülers erfolgten, als unverdächtig einzustufen seien. Herr Biasutto, der Chef der Aufseher, genießt im Colegio großes Ansehen; wie jedermann weiß, war er vor mehreren Jahren hauptverantwortlich für die Anfertigung der Listen, wie auch als ausgemacht gilt, daß er eines Tages, sobald die gängige Abfolgeregelung bei der Ämtervergabe es zuläßt, die Stelle des Studienleiters übernehmen wird.
Beim zweiten Mal mußten die Aufseher vorzeitig im Colegio erscheinen, um sich erklären zu lassen, wie weit – im räumlichen Sinne – ihre Zuständigkeit reicht: Die Vorschriften des Colegio haben nicht bloß im Inneren des Gebäudes wie auch auf dem Sportgelände, das sich seinerseits in der Nähe des Hafens befindet, Gültigkeit, sie sind darüber hinaus bis zu einer Entfernung von zweihundert Metern vom eigentlichen Zugang des Colegio aus wirksam. Der gesamte Gebäudekomplex, den das Colegio einnimmt, wie auch der Bürgersteig auf der Eingangsseite samt dem gegenüberliegenden Bürgersteig entlang der Iglesia de San Ignacio, aber ebenso der sich in Richtung Plaza de Mayo daran anschließende Gebäudekomplexzwischen der Calle Alsina und der Calle Hipólito Yrigoyen wie auch, auf der anderen Seite, der zwischen der Calle Moreno und der Avenida Belgrano, das gesamte Straßengeviert also, das zu einem Großteil vom Colegio eingenommen wird und gemeinhin als das historische »Aufklärungsviertel« bekannt ist, unterliegt den Vorschriften und Anweisungen, die im Reglement des Colegio festgehalten sind. Was bedeutet, daß die Aufseher des Colegio dort überall – an jeder Ecke, hinter jeder Abbiegung, vor sämtlichen dazugehörigen Gebäuden – ihres Amtes walten und folglich beispielsweise überprüfen müssen, ob die männlichen Schüler die Krawatte tatsächlich
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