Sittenlehre
sich gehört.«
Dreiman zeigt sich in angemessener Weise erschrocken. Sie sieht zu Boden und streicht sich geradezu reflexartig – zweifellos eine Schamreaktion – den grauenFaltenrock glatt. Hier, mitten auf dem Bürgersteig, unter freiem Himmel beziehungsweise im Schutz der Bäume, die an diesem Abschnitt der Straße stehen, ihrer Aufseherin zu begegnen, damit hätte sie nie gerechnet, und der Überraschungseffekt tut das Seine, damit die beabsichtigte augenblicklich abschreckende Wirkung erreicht wird. Auch ohne ihr Gesicht zu sehen, weiß María Teresa, daß Dreiman rot geworden ist und gerne schlucken würde. Die gewünschte Bestätigung ihrer gekonnt zum Einsatz gebrachten Autorität bleibt ihr freilich versagt, für Baragli scheint der Vorfall nämlich ein Anlaß zur Belustigung, ja der Selbstbestätigung zu sein, keinesfalls jedoch der eigentlich von ihm zu erwartenden Zerknirschung. Er sieht die Aufseherin unverwandt an, und man könnte meinen, gleich werde er lächeln, dazu kommt es dann aber doch nicht.
María Teresa reagiert, indem sie Baragli nicht weiter zur Kenntnis nimmt und sich dafür ganz auf Dreiman konzentriert. Dieser hat sie den Tadel schließlich erteilt, und bei ihr hat er ja auch so offensichtlich wie zufriedenstellend Wirkung gezeigt.
»Das habe ich heute zum letztenmal gesehen, verstanden? Verstanden?«
Dreiman nickt. Wie auch immer ihr das gelingt – schließlich hält sie den Kopf immer noch Schutz suchend gesenkt –, sie nickt. Baragli wiederum, der neben ihr steht, behält seinen irgendwie forschen Blick bei, abgesehen davon, daß er ganz eindeutig ein Lächeln unterdrückt oder aber so tut, als unterdrückte er ein Lächeln. María Teresa läßt es lieber hierbei bewenden und entfernt sich, ohne den beiden Schülern gegenüber auch nur den Hauch eines Zögerns oder der Schwäche zu erkennen zu geben.Trotzdem erfüllt sie der Vorfall mit einer gewissen Sorge, ja Kummer, und später, im Zimmer der Aufseher, gelingt es ihr – beim Erzählen überlegt sie ihre Worte genau –, Herrn Biasutto das Geschehene knapp zu umreißen.
Auch wenn seine Hände in keinem Moment einen Stapel Formulare mit dem Schulwappen darauf loslassen – er ist gerade damit beschäftigt, sie auszufüllen –, hört Herr Biasutto aufmerksam und mit verständnisvoller Miene zu.
»Wissen Sie, was ich schön fände? Wenn wir uns später in Ruhe darüber unterhalten könnten.«
María Teresa freut sich über diese Antwort, kann allerdings nicht genau einschätzen, ob Herr Biasutto mit »später« einen anderen Tag meint, noch in dieser oder erst in der nächsten Woche, oder ob er heute noch, eben bloß ein wenig später, mit ihr sprechen will. Wie auch immer, was Herr Biasutto vorhatte und ebenso, welchen Zeitpunkt er genau für ihr Gespräch vorgesehen hatte, wird sich nicht mehr feststellen lassen, da der gewohnte Tagesablauf kurz nach dieser Unterhaltung eine Störung erfährt, die sich nicht mehr rückgängig machen läßt. Bis dahin ist alles wie an einem normalen Tag gewesen. Wenn das Colegio etwas gewährleistet, dann vor allem Normalität. Manchmal sprengen die Ereignisse trotzdem den Rahmen – wie ein Fluß, der über seine Ufer tritt – und machen sich selbst in aufs sorgfältigste geschützten Regionen bemerkbar. Im Colegio kommt eigentlich nie etwas Unvorhergesehenes vor, dennoch sind heute kurz nach der zweiten Pause die Aufseher sämtlicher Kurse und Jahrgänge zu einer dringenden Versammlung einberufen worden. Die Aufforderung erfolgte nicht durch Herrn Biasutto, den Oberaufseher, und ebensowenig durch denStudienleiter, den María Teresa irgendwann sichtlich erregt im Erdgeschoß eintreffen sieht, sondern von allerhöchster Stelle, nämlich seitens des Vizerektors des Colegio, der seit der Amtsenthebung des Rektors obersten Autorität im Hause.
Über dreißig Aufseher haben sich im Mittelgang des Colegio versammelt. Keiner von ihnen würde es wagen, sich seine Aufregung anmerken zu lassen, indem er oder sie einen nervösen Blick zu der großen Uhr mit den römischen Ziffern wirft, die den Raum beherrscht, neben der argentinischen Fahne, die sich gestärkt und doch schlaff über die Wand ausbreitet, und der ernst dreinblickenden Büste Manuel Belgranos, des Schöpfers dieser Fahne und einstigen Schülers des Colegio. Keiner sieht aber auch seinen Nebenmann an. Die Aufseher stellen sich vielmehr im Halbkreis auf – in einem nicht übermäßig weit geöffneten Halbkreis; daß Herr Biasutto
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