Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
stehen. Auf Anias Rücken saß diesmal kein gewöhnlicher Papptornister, sondern ein quadratischer, rosafarbener Kasten mit blinkenden Ecken und einem kleinen Hund auf der Klappe. Der Anblick ließ neblige Ahnungen in mir aufsteigen, wie Erinnerungen aus einem anderen Leben. Der Tornister schwebte wie ein überirdischer Fremdkörper im betontrüben Grau meiner vertrauten Welt. Und trotzdem war mir, als hätte ich ihn viele Male schon gesehen. Bis mich schlagartig die Erkenntnis traf: Himmel! Was da an Anias Rücken hing, an einem wahrhaftigen Mädchen aus Fleisch und Blut, war tatsächlich ein Ding aus der Anderswelt! Ein Ding, das ich schon unzählige Male in meinem großen, goldenen Buch bewundert hatte. Für einen Moment war alles erleuchtet, und ich ahnte, wie es sein musste, wenn einem die Mutter Gottes erschien. » OUELLE «, »rausgefahren« und » BRD « fügten sich plötzlich zu einem einzigen, gemeinsamen Sinn.
Überwältigt stand ich auf der Straße und starrte Ania nach, bis sie im aufgewirbelten Dreck eines Pferdekarrens verschwand.
Meine Euphorie ging jäh in Erschöpfung über. Dem Unterricht, der in fünf Minuten begann, fühlte ich mich nicht mehr gewachsen. Also rannte ich so schnell ich konnte nach Hause, wo ich in einem Anfall von Schwäche auf den Teppich sank. Oma gab mir zur Stärkung Zwiebelsaft zu trinken, und ich habe nicht protestiert. Ania und ihr Tornister hatten die Existenz der OUELLE -Welt bezeugt. Das große Rätseln hatte endlich ein Ende. Alles Wissen, das ich begehrte, lag in Anias Händen. Es musste mir nur gelingen, endlich Freundschaft mit ihr zu schließen.
Doch am nächsten Morgen war Ania nicht mehr da. Ihre Bank blieb auch am übernächsten Tag leer. Am Ende der Woche verkündete die Lehrerin: »Ania ist nicht krank, Ania ist rausgefahren . Ihr Vater hat sie zu sich geholt. Wir werden Ania nie wiedersehen.«
3.
Der Schatz in der Vitrine
Aus meiner sommersprossigen Banknachbarin Aneta war bald meine beste Freundin geworden. Nach den Hausaufgaben trafen wir uns in der Asphaltwüste ihrer Blocksiedlung und hingen von der Teppichstange, bis die Sonne unterging. Ich bewunderte Aneta für ihre Blinddarmnarbe und die Unverfrorenheit, mit der sie vulgäre Abzählreime erdachte. Weil meine Eltern sie für »schlechten Umgang« hielten, hatte unsere Freundschaft etwas aufregend Verbotenes. Aneta wusste alles und hatte fast alles schon mal erlebt. Das Einzige, womit ich sie vielleicht beeindrucken konnte, war mein geheimer Schatz: das Goldene Buch.
»Ich habe etwas Unglaubliches gefunden«, gestand ich ihr eines Nachmittags. »Willst du es sehen? Es ist in meinem Versteck.« Es war das erste Mal, dass ich mein Geheimnis mit jemandem teilen würde. Aneta ließ die Kaugummiblase über ihr gesprenkeltes Gesicht platzen.
»Klar«, sagte sie. »Von mir aus.«
Wir sprangen über die Schlaglöcher, die die Blocksiedlung von den Bauernhütten trennten, kletterten über einen morschen Zaun und kämpften uns durch ein Schrottfeld, wo wir über rostige Tonnen und alte Kanister balancieren mussten. Als die Lokomotive im hohen Gras zwischen den Birken sichtbar wurde, klopfte mir das Herz bis zum Hals. Kaum waren wir in den Waggon geklettert, schielte Aneta in alle Luken und Löcher und brach anschließend wahllos Stahlteile ab, die ihrem Rütteln und Zerren nicht standhielten. Ich holte das Goldene Buch hinter den Brettern hervor, reichte es Aneta wie den Kelch mit dem Blut Christi und hoffte, dass sie ihm nicht dieselbe grausame Gleichgültigkeit entgegenbringen würde wie meiner Lokomotive. Ungeduldig harrte ich ihrer Reaktion, während sie ohne eine Miene zu verziehen durch die Seiten blätterte.
»Das ist dein Geheimnis?«, fragte sie gelangweilt und ließ eine Kaugummiblase platzen. »Einen Katalog haben sogar wir zu Hause.«
»Katalog?«, fragte ich verwundert.
»Ja, kennst du das nicht? Auf unserem steht OTTO , aber es ist dasselbe drin.«
»Woher habt ihr –?«, fragte ich fassungslos. Aber anstatt zu antworten, sprang Aneta auf und rief: »Ich muss los. Komm morgen nach der Schule mit zu mir nach Hause, dann zeige ich dir etwas viel Besseres!«
»Augen zu!«, rief Aneta herrisch, als der Aufzug des Blocks Nummer 12 uns am nächsten Tag in ihrem Stockwerk ausspuckte. Aneta schloss die Wohnungstür auf, presste mir ihre kalten Hände vors Gesicht und führte mich um eine Ecke.
»Jetzt kannst du schauen«, sagte sie.
Ich stand vor einer Vitrine im Wohnzimmer von Anetas
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