Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
würde ich um keinen Preis hergeben.
»Das ist ja hochinteressant«, sagte der Polizist. »In diesem Fall muss ich dich wohl zurück ins Waisenhaus bringen.«
Ich schluckte. Nur ein Gebäude jagte mir mehr Angst ein als das Spital. Zwar hatte ich noch nie ein Waisenhaus von innen gesehen, aber man erzählte sich, dass die Kinder dort immerzu weinten, weil sich außer den Ratten, die an ihren rostigen Bettchen nagten, niemand für sie interessierte. Was hatte ich bloß angerichtet? Hatte ich mit meiner leichtsinnigen Schwindelei meine Familie, Omas Garten und ein behütetes Zuhause verspielt? Ich spürte, wie die Verzweiflung in mir hochstieg und mein altes Laster sich wieder Bahn brechen wollte; ich stand kurz davor, meinen nächsten Tod vorzutäuschen. Schon ging ich in die Knie und mein Atmen in ein Röcheln über, als ein Rattern und Knattern in die Morgenstille brach. Aus dem milchig-goldenen Dunst tauchte ein rotes Moped auf, und das Nächste, was ich sah, war die schwarze Turmfrisur meiner Oma.
»Ich kriege die Weißglut!«, rief sie, während sie ihr knisterndes Haarungetüm zurechtrückte. Um diese Uhrzeit war Oma bereits geschminkt wie für die Bühne. Zwei rote, unnatürlich spitze Bögen krönten ihre Oberlippe.
»Kennen Sie das Mädchen, schöne Frau?«, fragte der Polizist, nachdem er demütig seine Mütze abgenommen hatte.
»Natürlich, das ist meine Enkelin!«, entgegnete Oma keck.
»Aha. Und Sie wussten, dass sie nicht in der Schule ist?«
»Die Alte vom Kiosk hat sie gesehen und mir Bescheid gesagt.« Dann wandte sich Oma mir zu. »Was hast du hier verloren? Warum bist du nicht im Unterricht?«
Bevor ich mir eine Antwort ausdenken konnte, platzte der Polizist mit der Wahrheit heraus:
»Weil sie in die BRD wandern will! Alleine!«, und er ließ ein polterndes Lachen hören. Als Omas Blick auf das offene Wanderbündel fiel, begriff sie, dass der Polizist nicht mit ihr gescherzt hatte.
»Was? Ins rajch wollte sie marschieren!?? Mit einem Besenstock!!?« Oma stimmte in das Gelächter des Polizisten mit ein. »Und wozu die Kartoffeln und der ganze Müll?«, fragte sie, während sie sich eine Träne aus dem Auge wischte.
»Das ist kein Müll«, rief ich empört. »Das sind meine Papiere. Die hab ich gegen Opas Briefmarken getauscht. Und für die Cola-Dose habe ich mit drei Alben bezahlt.«
»Du hast WAS ????«, schrien Oma und der Polizist gleichzeitig.
»Warte, bis die Eltern nach Hause kommen, Fräulein«, schimpfte Oma, während sie das Moped startete.
»Los, steig auf!«, befahl sie streng, und als ich Anstalten machte, mein Bündel aufzusammeln, blickte sie noch finsterer. Sogar den Besenstiel musste ich zurücklassen. Tränen, groß wie die Erbsen auf Omas Kleid, perlten im Fahrtwind von meinen Wangen. Der Traum von BRD war geplatzt wie Anetas Kaugummiblase, und das Einzige, woran ich mich klammern konnte, waren Omas wuchtige Hüften.
Ich kauerte schon zwei Stunden im Schatten des Hirschgeweihs, als der stechende Geruch von Omas chinesischer Migränesalbe ins Zimmer zog. Sie stellte das Tee-Tablett auf den Tisch, ließ sich in ihren Sessel sinken und schlug die Beine übereinander.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, brach sie endlich ihr strafendes Schweigen. Aus Verzweiflung packte mich das Bedürfnis, ihr auf einen Schlag alles zu beichten. Ich erzählte ihr von dem Tag, an dem ich den Katalog im Keller entdeckt hatte, von Anias eckigem Hunde-Tornister, dem Schatz in der Vitrine und der Tauffeier, als ich unter dem Tisch herausfand, dass Rausfahren und BRD zusammenhingen.
Oma hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört, doch als ich fertig war, schüttelte sie lachend den Kopf.
»Wie dumm man doch ist als Kind! Im Katalog sieht doch immer alles schöner aus, als es in Wirklichkeit ist. Aber ich verstehe dich. Als ich ein junges Mädchen war, habe ich Zigarettenbildchen gesammelt. Da waren Filmstars drauf, was hab ich mir nicht alles dazu vorgestellt! Deinen Opa habe ich nur geheiratet, weil er aussah wie so ein hübscher karlus aus meinem Sammelalbum. Schrecklicher Fehler.«
Sie rührte ihren kalt gewordenen Tee so energisch, dass ein Orkan aus Fusseln durchs Glas wehte.
»Die Deutschen mögen Hasen aus Schokolade haben, aber saure Gurken und Graupenwurst gibt’s nur bei uns. Schau dich nur um. Bei mir könnt ihr Äpfel, Birnen und Zwetschen vom Baum pflücken. Ein Leben wie im Paradies!«
»Aber in BRD ist es noch besser als im Paradies.«
»O nein, mein Kindchen. Die BRD
Weitere Kostenlose Bücher