Skulduggery Pleasant 6 - Passage der Totenbeschwörer
einfach keine andere Wahl. Kenny brauchte einen Neuanfang. Seine Karriere hatte sehr vielversprechend begonnen. Er hatte einige viel beachtete Interviews und Artikel zustande gebracht, doch dann war ihm alles entglitten. Er hatte es kommen sehen, jedoch nichts dagegen tun können. Jetzt arbeitete er freiberuflich, bekam den einen oder anderen Auftrag, doch meist überließen die Herausgeber es ihm, die Geschichten aufzuspüren. Und genau das hatte er getan.
Als ihm die Gerüchte vor etlichen Jahren zu Ohren gekommen waren, hatte er nichts darauf gegeben. Natürlich nicht. Sie waren verrückt. Er schrieb ein paar Artikel über den neuen Trend in den modernen Großstadtlegenden, doch mehr hatte er nie darin gesehen. Aber sie hielten sich hartnäckig, diese Geschichten von merkwürdigen Leuten mit merkwürdigen Kräften, die merkwürdige Dinge taten. Unvorstellbare Dinge und nicht nur die fixen Ideen von Verrückten und Personen, die unter Wahnvorstellungen litten oder verwirrt waren. Solche Geschichten gab es überall. Immer wieder mal tauchten sie im Internet auf und verschwanden fast sofort wieder. Ein paar der Berichte, denen er nachgegangen war, hatten sich als Enten herausgestellt. Angebliche Zeugen taten auf einmal so, als hätten sie keine Ahnung, wovon er sprach. Er war kurz davor gewesen, die ganze Sache zu vergessen, als er Lynch traf. Lynch war Kennys Verbindungsmann. Nach all den Jahren, in denen er gelegentlich recherchiert hatte, war Lynch sein erster verlässlicher Hinweisgeber gewesen - so verlässlich ein nuschelnder Obdachloser jedenfalls sein konnte. Und Kenny hatte den Eindruck, dass er jetzt bereit war, alles preiszugeben, was er wusste. Schon drei Mal hatte Kenny mit ihm gesprochen und er glaubte, langsam sein Vertrauen gewonnen zu haben.
Heute war der Tag, das wusste er. Wenn er nur rechtzeitig da sein konnte.
Das Taxi hielt erneut und Kenny verlor die Geduld. Er bezahlte den Fahrer, stürzte aus dem Wagen, warf seine Tasche über die Schulter und rannte los.
Nach zwanzig Sekunden bereute er diesen Schritt bereits. Er war seit Jahren nicht mehr gerannt. Gütiger Himmel, rennen war ja richtig anstrengend! Und man kam ins Schwitzen dabei. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Er war völlig außer Atem. Die Schienbeine taten ihm weh.
Er wankte zur nächsten Ecke und hielt ein Taxi an. Es war dasselbe, aus dem er eben ausgestiegen war.
»Ist Ihnen wohl nicht bekommen, was?«, fragte der Fahrer selbstgefällig.
Kenny japste und keuchte nur auf dem Rücksitz. Endlich erreichten sie den Park, Kenny bezahlte den Fahrer ein zweites Mal und lief dann über den Rasen. Überall waren Leute. Sie lagen lang ausgestreckt in der Maisonne, lachten und redeten. Andere schlenderten umher und aßen Eis. Kleine Hunde flitzten hinter ihren Herrchen her. Irgendwo spielte Musik. Der Teich glänzte.
Kenny sah Lynch abseits von allen anderen im Schatten sitzen. Ein erleichtertes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und ging hinüber, etwas langsamer jetzt. Er hob die Hand und winkte, doch Lynch winkte nicht zurück. Er saß einfach nur mit hängenden Schultern da, den Rücken an das Geländer gelehnt. Wahrscheinlich hatte er schlechte Laune.
Wenn er tatsächlich ein Medium gewesen wäre, hätte er Kennys Verspätung vorhergesehen und es gäbe jetzt keine Probleme. Aus Kennys Lächeln wurde ein Strahlen.
»Tut mir leid«, entschuldigte er sich, als er in den Schatten trat. »Der Verkehr, Sie wissen schon. Dann hat das Auto auch noch den Geist aufgegeben und ich musste mir ein Taxi nehmen.«
Lynch sagte nichts dazu. Er hob nicht einmal den Kopf.
Kenny blieb noch einen Augenblick unschlüssig stehen, dann zuckte er mit den Schultern und setzte sich. »Ein herrlicher Morgen, nicht wahr? Kein Mensch kann Vorhersagen, wie so ein irischer Sommer werden wird. Wollen Sie ein Eis oder sonst etwas? Ich hätte jetzt wahnsinnig Lust auf ein Eis.«
Wieder keine Antwort. Lynch hatte die Augen geschlossen.
»Paul?«
Kenny stupste seinen einzigen verlässlichen Hinweisgeber an. Stupste ihn noch einmal an. Dann sah er das Blut auf Lynchs Hemd und er packte und schüttelte ihn. Lynns Kopf fiel nach hinten und man sah die Kehle und den langen, glatten Schnitt. Wie ein rotes Auge, das sich öffnete.
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ICH UND DAS MÄDCHEN
Kenny saß im Verhörzimmer und versuchte nicht herumzuzappeln. Er war einigermaßen enttäuscht, dass kein Einwegspiegel in die Wand
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