Der Duft der Rosen
PROLOG
S ie schreckte hoch. Ihre Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Sie horchte dem merkwürdigen Geräusch nach, das sie aus ihrem tiefen, aber ruhelosen Schlaf geweckt hatte.
Da.
Da war es wieder. Ein fernes, seltsames Knarren, wie das einer Diele. Sie hob den Oberkörper leicht an und lauschte angestrengt. Das Geräusch hatte sich verändert, war zu einem eigenartigen Stöhnen geworden. Es klang ein bisschen wie der Wind, aber es konnte nicht der Wind sein. Denn draußen war die Luft ruhig und warm, die Sommernacht stockdunkel und still. Sie lauschte auf das Zirpen der Grillen im nahe gelegenen Feld, doch die gaben merkwürdigerweise keinen Laut von sich.
Es begann erneut. Ein merkwürdiges Knarren, dann ein Stöhnen. Es ähnelte keinem Geräusch, das sie jemals in diesem Haus gehört hatte. Mit klopfendem Herzen setzte sie sich auf und lehnte sich an das Kopfteil des Bettes. Während sie unverwandt auf die Tür starrte, überlegte sie, ob sie ihren Mann wecken sollte. Doch Miguel musste früh raus. Seine Tage waren lang und anstrengend. Was auch immer sie gehört hatte, es entsprang sicher ihrer Einbildung.
Ihre Ohren lauschten angestrengt in die Stille, lauschten und lauschten, doch das Geräusch kam nicht wieder. Sie musste sich fast zwingen zu atmen. Es war plötzlich fürchterlich stickig im Schlafzimmer geworden. Sie konnte kaum noch Luft holen, es war als ob ein schweres Gewicht auf ihrer Brust läge. Ihr Herz schlug nun noch schneller und härter, sodass sie jeden einzelnen Schlag hinter dem Brustbein spürte.
Madre de Dios
, was ist los?
Sie atmete erneut tief ein, sog die stickige Luft in ihre Lungen und stieß sie langsam wieder aus. Sie ermahnte sich selbst, ruhig zu bleiben.
Es ist nichts … nur eine Sinnestäuschung. Nichts außer der warmen mondlosen Nacht und der Stille.
Sie atmete wieder ein. Wieder aus und wieder ein, tiefe, angestrengte Atemzüge, die sie beruhigen sollten. Ihre wachsende Furcht konnten sie jedoch nicht lindern.
Und dann roch sie es. Den schwachen Duft von Rosen. Der Duft zog immer mehr auf sie zu, schien sich um sie zu legen und sie zu erdrücken. Seine Intensität steigerte sich, bis er zu einem widerlichen und unerträglich süßen Gestank wurde. Auf den Feldern um das Haus blühten das halbe Jahr über Rosen, doch ihr Duft war sanft und leicht und angenehm. Ganz und gar nicht wie dieser stickige Geruch, der in der Luft hing: der Gestank von verfaulenden Blumen.
Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Maria wimmerte. Ihre Hand zitterte, als sie nach ihrem Mann tastete, der seelenruhig neben ihr schlief. Doch sie hielt inne. Sie wusste, dass er schlecht wieder einschlafen könnte, und sie wusste, wie nötig er seinen Schlaf hatte. Reglos hoffte sie, ihn allein durch die Kraft ihrer Gedanken wecken zu können.
Ihr Blick huschte ruhelos durch den Raum, immer auf der Suche nach dem Ursprung der Geräusche und des Gestanks und zugleich voller Angst, was sie finden mochte. Doch es war nichts zu sehen. Nichts, das die Panik erklären konnte, die in ihr aufstieg und mit jedem angsterfüllten Herzschlag größer wurde.
Der Hals war ihr wie zugeschnürt. Sie schluckte und streckte die Hand nach Miguel aus. Genau in diesem Moment wurde der Geruch schwächer. Der Druck auf ihrer Brust ließ nach. Allmählich wurde auch die Luft wieder leicht. Sie nahm einen tiefen, reinigenden Atemzug und dann noch einen und noch einen. Draußen vor dem Fenster hörte sie das Zirpen der Grillen. Erleichtert ließ sie sich gegen das Kopfteil des Bettes sinken.
Es war also doch nichts. Nur die heiße trockene Nacht und ihre Einbildung. Miguel wäre ärgerlich gewesen. Er hätte ihr vorgeworfen, sich wie ein Kind aufzuführen.
Unwillkürlich legte sie die Hand auf ihren Bauch. Sie war kein Kind mehr. Sie war neunzehn Jahre alt und trug selbst ein Kind in sich.
Sie blickte hinüber zu ihrem Mann und wünschte, dass sie ebenso tief schlafen könnte wie er. Doch ihre Augen blieben offen, ihre Ohren alarmbereit. Sie redete sich zu, dass sie keine Angst mehr zu haben bräuchte.
Doch sie wusste, dass sie für den Rest der Nacht keinen Schlaf mehr finden würde.
EINS
E lizabeth Conners saß hinter ihrem Schreibtisch. Ihr Büro in der psychologischen Gemeinschaftspraxis für Familienberatung war gemütlich eingerichtet mit dem Eichenschreibtisch und dem dazugehörigen Stuhl, den beiden Aktenschränken aus Eiche, zwei weiteren Stühlen und dem dunkelgrün bezogenen
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