Small World (German Edition)
ebenfalls bleich. »Nein. Sie werden zu therapeutischen Zwecken gebraucht.«
»Gib mir sofort die Fotos!«
Die beiden Frauen starrten sich an. Keine bereit nachzugeben.
Da ertönte vom Bett her Konrads Stimme. »Mama, warum habt ihr Papa Direktor gestochen?«
Elvira sah Konrad nicht an. Ihr Blick irrte von Schwester Irma zu Dr. Kundert und zu Simone.
Dann drehte sie sich um und verließ das Zimmer.
Simone ging zu Konrads Bett. »Wer hat Papa Direktor gestochen?«
Konrad legte seinen Zeigefinger an die Lippen. Psst.
Seit Simone nicht mehr künstlich ernährt wurde und Konrad Lang nichts mehr aß, konzentrierte sich Luciana Dotti auf Simone. Sie war zwar ausgebildete Diätköchin, aber bei schwangeren Frauen hielt sie nichts von Diät. Sie kochte ihr »fettuccine al prosciutto e asparagi«, »pizzoccheri della Valtellina«, »penne ai quattro formaggi«, und jedesmal, wenn Simone zwischen den Mahlzeiten in die Nähe der Küche kam, versuchte sie ihr ein Röllchen Parmaschinken oder ein Rädchen weiche Salami in den Mund zu stecken. »Per il bambino.«
Heute hatte es »conchiglie alla salsiccia e panna« gegeben, und Simone hatte sich zwei große Portionen aufdrängen lassen. Noch während sie den Tisch im Stationszimmer abräumte, kündigte Luciana an: »Heute abend mache ich ›maccheroni al forno alla rustica‹. Mit Auberginen und geräuchertem Mozzarella überbacken, ein Gedicht.«
Simone reagierte schnell. »Oh, habe ich das nicht gesagt? Heute abend bin ich zum Essen eingeladen.«
Luciana nahm es mit Würde. »Viel Vergnügen«, wünschte sie knapp und trug ab. Schwester Irma half ihr dabei.
Dr. Kundert betrachtete Simone. Als sie seinen Blick spürte, sah sie auf. »Auberginen mit geräuchertem Mozzarella. Ich wußte mir nicht anders zu helfen.«
»Sie sind gar nicht eingeladen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und wie lösen Sie das?«
Sie zuckte die Schultern.
»Darf ich Ihnen meine Hilfe anbieten?«
Den ganzen Tag verbrachte Elvira Senn in ihrem Schlafzimmer und ließ niemanden zu sich. Am Abend, als es Zeit für ihr Insulin wurde, ging sie zu dem kleinen Kühlschrank im Bad, nahm ihre Insulin-Pen, hielt sie über das Lavabo und drückte auf den Knopf. Dann drehte sie beide Hähne auf und ließ lange das Wasser laufen.
Tomi lag im Bett und weinte. Aber nur leise. Wenn ihn Konis Mama hörte, würde sie kommen und ihn stechen. Das hatte sie selbst gesagt.
Konis Mama schlief jetzt nebenan. Deswegen war es gut möglich, daß sie ihn hörte. Sie hieß jetzt Mama Anna. Und Mama hieß jetzt Mama Elvira. Weil Konis Mama und seine Mama beide Mama hießen, wußte man sonst nämlich nie, welche Mama sie meinten.
Tomi weinte, weil er in Konis Bettchen schlafen mußte, in Konis Zimmer.
Das war ein Spiel. Manchmal spielte Tomi Koni und Koni Tomi. Dann durfte Koni in Tomis Bettchen schlafen und Tomi in Konis.
Aber Tomi mochte das Spiel nicht. Konis Zimmer war im Häuschen hinter der Villa, wo Konis Mama schlief. Mama Anna. Vor ihr hatte er Angst.
Er hörte Stimmen streiten im Treppenhaus. Die Tür ging auf, und das Licht ging an.
»Nicht stechen«, sagte Tomikoni.
»Niemand wird dich stechen, Kind«, sagte die Stimme. »Wir bringen dich jetzt in dein Bettchen.«
Tomi war froh. Es war nicht Mama Anna. Es waren Tante Sophie und Tante Klara.
Elvira saß hochgebettet in ihrem riesigen Bett. Der Föhn war zusammengebrochen, der März zeigte wieder sein wahres Gesicht. Die Vorhänge aus altrosa Crêpeseide waren zugezogen und ließen nur wenig vom Licht des grauen Nachmittags herein.
Auf dem Biedermeiersekretär neben dem Bett und der ausladenden Empire-Kommode brannten zwei Lampen mit seidenen Schirmen und tauchten den Raum in perlmuttfarbenes Licht.
Urs saß auf einem kleinen gepolsterten Sessel am Bettrand. Elvira hatte ihn zu sich gebeten, weil sie ihm wichtige Dinge zu sagen hatte.
»Du hast mich gestern gefragt, ob es Dinge in der Vergangenheit gibt, die du wissen solltest. Es gibt solche Dinge.«
Als Urs zwei Stunden später aus einem Fenster der Villa zum Gästehaus hinüberschaute, war er nicht so unbesorgt, wie er Elvira hatte glauben lassen. Er erwiderte den Gruß von Dr. Stäubli nur flüchtig, der ihm auf dem Weg zum »Stöckli« im Vorübergehen zuwinkte.
Elvira hatte Stäubli angerufen und ihm ihre Blutzuckerwerte genannt. »Da stimmt etwas nicht«, hatte er gesagt und sich sofort auf den Weg gemacht.
Als er ihre Werte maß, runzelte er die Stirn und nahm eine Stechampulle
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