Small World (German Edition)
Teile des Gehirns verloren hatten. Manchmal mußten sie vieles wieder von Grund auf lernen, manchmal vergaßen sie ganze Bereiche ihres Lebens. Aber meistens gewannen sie die Funktionen wieder, die ihnen erlaubten, wieder ein normales Leben zu führen.«
»Sie glauben, das wäre auch bei Konrad Lang möglich?«
»Wenn es gelingt, den Prozeß zu stoppen, solange er noch sprechen und Sprache verstehen kann, besteht die Chance, daß die verbliebenen Zellen stimuliert werden und neue Kontakte knüpfen können. Wahrscheinlich hätte er große Gedächtnislücken, und man müßte die Organisation seines Wissens in mühsamer Kleinarbeit wieder in Ordnung bringen. Aber es ist möglich. Wir gehen davon aus, daß es möglich ist, sonst wären wir nicht hier.«
»Sie wollen mir Mut machen«, lächelte Simone.
»Ist es mir gelungen?«
»Ein bißchen.«
Elvira hatte Thomas und Urs in ihr Arbeitszimmer zitiert, in dem sonst die informellen Verwaltungsratssitzungen der Koch-Werke stattfanden. Sie kam gleich zur Sache.
»Urs, deine Frau hat mich bestohlen.«
Urs fiel aus allen Wolken. Er hatte angenommen, es ginge um etwas Geschäftliches.
»Ich weiß nicht, wie und mit wessen Hilfe, ich weiß nur, daß sie im Besitz von Fotos ist, die ich hier an einem sicheren Ort aufbewahre.« Sie zeigte auf die Alben, die auf dem Tisch lagen. Urs nahm eines und begann darin zu blättern.
»Sie muß hier eingedrungen sein und sich Kopien gemacht haben. Dr. Stäubli hat gesehen, wie sie sie mit Koni anschaute.«
Thomas nahm sich ebenfalls ein Album und begann darin zu blättern.
»Weshalb sollte sie so etwas tun?«
»Sie will ihn damit stimulieren, was weiß ich. Es soll helfen, den Bezug zur Realität wiederherzustellen. Zur Realität!«
»Vermutest du das, oder weißt du es?«
»Ständig lag sie mir in den Ohren, daß ich ihr Fotos von früher gebe. Und Thomas auch. Nicht wahr, Thomas?«
Thomas war in das Fotoalbum vertieft. Jetzt schaute er auf. »Was?«
Elvira winkte ab und wandte sich wieder an Urs. »Ich will die Fotos zurück, und zwar sofort.«
»Aber du hast sie ja, sie hat doch nur Kopien gemacht, sagst du.«
»Ich will nicht, daß sie mit Konrad in unserer Vergangenheit wühlt.«
Urs schüttelte den Kopf und blätterte in einem Album. »Warum sind hier so viele Fotos herausgerissen?«
Elvira nahm ihm das Album weg. »Bring mir die Fotos zurück!«
Thomas lachte auf und hielt Urs sein Album vor die Nase. »Was siehst du hier?«
»Elvira vor einem Kabrio.«
»Und mich und Koni siehst du nicht?« grinste er.
Elvira riß ihm das Album aus der Hand.
Thomas schaute sie verdattert an. Dann beugte er sich zu seinem Sohn. »Der Mercedes machte hundertzehn.«
»Bring mir die Fotos!« befahl Elvira und stand auf.
»Gibt es etwas in der Vergangenheit, das man nicht wissen darf?« fragte Urs mißtrauisch.
»Bring mir die Fotos!«
Urs stand verärgert auf. »Und ich dachte, es gehe um die Firma.«
»Um die geht es auch.« Elvira verließ das Zimmer.
»Sie wird langsam alt«, erklärte Thomas seinem Sohn.
Konrad Lang streikte immer noch. Er aß nichts, er war zu keinem Pinselstrich zu bewegen, und er hatte dem Therapeuten eine gelangt, als der ihn mit sanfter Gewalt zu einer harmlosen Übung drängen wollte. Dr. Kundert hatte angeordnet, daß Konrad nachts künstlich ernährt werden müsse, wenn er auch das Abendessen verweigerte.
Sie hatten beschlossen, daß Simone ihm heute die Fotos aus dem ältesten Album zeigen sollte. Sie hofften, ihn damit aus seiner Apathie zu reißen.
Koni saß im Morgenrock in seinem Sessel im Wohnzimmer. Es war nicht möglich gewesen, ihn anzukleiden. Als Simone das Zimmer betrat, reagierte er nicht. Auch nicht, als sie einen Stuhl heranzog und sich neben ihn setzte.
»Koni«, fing sie an, »ich habe hier ein paar neue Bilder, bei denen ich deine Hilfe brauche.« Sie schlug das Album auf.
Das erste Foto zeigte die junge Elvira im Wintergarten der »Villa Rhododendron«. Sie trug einen wadenlangen Rock und einen ärmellosen, hochgeschlossenen Pullover, an dessen Halsausschnitt ein weißes rundes Kräglein hervorschaute. Sie saß in einem Liegestuhl und strickte. Im Vordergrund sah man die Lehne des Biedermeiersessels, der jetzt, anders bezogen, im Boudoir in der Villa stand.
»Diese Frau, zum Beispiel, wer ist das?«
Konrad schaute gar nicht hin.
Simone hielt ihm das Album vors Gesicht. »Diese Frau?«
Koni seufzte. »Fräulein Berg«, antwortete er, wie zu einem schwierigen
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