Small World (German Edition)
Jura studiert, war in die renommierte Praxis seines Vaters eingetreten, deren wichtigster Klient die Koch-Werke waren. Er war, neben seiner Tätigkeit für die Werke, Urs’ persönlicher Rechtsberater geworden und, soweit das in einer solchen Konstellation möglich war, auch sein Freund.
Urs hatte ihn angerufen und gefragt, ob er heute abend zufällig frei sei. »Zufällig ja«, hatte Alfred geantwortet und die Theaterpremiere sausenlassen.
Urs wußte nicht, wie er anfangen sollte.
»Schade um den alten Kasten«, bemerkte Alfred, um etwas zu sagen. Als Urs nicht verstand, was er meinte, erklärte er: »Das Des Alpes. Seit Jahren in den roten Zahlen. Die ›Nationalkredit‹ hat ihm die Hypotheken gekündigt. Es heißt, sie will es übernehmen und ein Ausbildungszentrum daraus machen. Die Bar wird mir fehlen. Ruhig genug, um etwas besprechen zu können. Laut genug, um dabei nicht belauscht zu werden. Man ist unter sich.«
Urs genügte das als Stichwort. »Was ich dich fragen will, soll auch unter uns bleiben. Es wird dir seltsam vorkommen, und es könnte dich zu falschen Schlüssen verleiten. Betrachte es als eine rein theoretische Erörterung. Mehr kann ich dir über die Hintergründe nicht sagen, außer: Es ist nicht so, wie du meinst.«
»Alles klar.«
»Folgendes Szenario: Eine junge Frau heiratet in den Dreißigerjahren einen wohlhabenden Fabrikanten, Witwer mit fünfjährigem Sohn. Ein Jahr später stirbt er. Einen Erbvertrag gibt es nicht, seine einzigen Erben sind seine Frau und sein Sohn. Sie tauscht diesen gegen den Sohn einer Freundin, was niemand merkt. Was geschieht, wenn die Sache heute auffliegt?«
»Weshalb sollte sie das tun?«
»Einfach so. Eine Hypothese. Was geschieht also?«
Alfred überlegte einen Moment. »Nichts.«
»Nichts?«
»Betrug verjährt nach zehn Jahren.«
»Da bist du sicher?«
»Ich kenne doch die Verjährungsfrist von Betrug.«
Urs rührte mit einer Giraffe aus Plastik im Glas. Die Eiswürfel klingelten. »Zusatzfrage, noch hypothetischer: Der Mann ist nicht eines natürlichen Todes gestorben, sondern die Frau hat etwas nachgeholfen, ohne daß es jemand gemerkt hat.«
»Mord verjährt nach zwanzig Jahren, Betrug nach zehn. Wenn in dieser Zeit nichts ans Licht gekommen ist, ist die Sache erledigt.«
»Und das Erbe?«
»Die Frau ist als Mörderin lebenslänglich erbunwürdig. Das heißt, wenn die Sache heute auffliegt, verliert sie automatisch alle Ansprüche auf das Erbe.«
»Und muß es dem rechtmäßigen Erben zurückgeben.«
»Von Rechts wegen schon.«
Urs nickte. »Das hab ich mir gedacht.«
»Aber wenn sie es nicht tut, kann er nichts machen. Die Erbschaftsklage verjährt nach dreißig Jahren.«
»Und der falsche Sohn?«
»Da ist noch weniger zu holen. Bei dem verjährt sie bereits nach zehn. Und weil er ja nichts dafür kann, daß er als Kind vertauscht wurde, ist er nicht einmal erbunwürdig.«
»Bist du sicher?« Urs winkte der Barfrau.
Alfred Zeller grinste. »Unser Erbrecht schützt die Vermögen besser als die Erben.«
»Noch einmal das gleiche?« fragte Evi.
Etwa zur selben Zeit stand Elvira Senn zum Ausgehen gekleidet im Badezimmer und zog den ganzen Inhalt der Stechampulle, die sie Dr. Stäubli entwendet hatte, auf drei Spritzen auf.
Sie schlug sie in einen trockenen Waschlappen ein und steckte ihn in die Handtasche. Dann trat sie ins Entrée, nahm aus der Vase neben der Garderobe den Frühlingsstrauß und ging hinaus. Die Laternen, die den Weg durch die Rhododendren säumten, hatten gelbe Höfe aus Nieselregen.
Konitomi lag im Bett. Im Bett über ihm lag Tomikoni. Die Mamas schliefen nebenan.
Die Betten rüttelten und wackelten. Sie fuhren in einem Zug durch die Nacht. Sie waren auf einer langen Reise.
Es war dunkel, das Rollo am Fenster runtergezogen. Wenn der Zug hielt, hörte man vor dem Fenster Lärm und Stimmen und vor der Tür Schritte und Leute, die aufgeregt in fremden Sprachen durcheinanderredeten.
Nach einer Weile ruckten die Betten, es ächzte und quietschte, und dann ratterte der Zug weiter. Langsam und dann immer schneller. Radada, radada, radada.
Er und Tomikoni hatten jetzt jeder zwei Mamas: Mama Anna und Mama Vira. Damit sie nicht so traurig waren, daß sie keinen Papa mehr hatten und keine Tanten.
Er war trotzdem traurig. Tomikoni nicht.
Schwester Ranjah war überrascht, als sie der älteren Dame mit dem großen Blumenstrauß die Tür öffnete.
»Ich bin Elvira Senn. Ich wollte Herrn Lang ein paar Blumen bringen.
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