Snow Angel
untergehenden Sonne der See. Sie kennt ihn nur im Winter. Der Anblick des zugefrorenen Gewässers im Talkessel ist so wunderschön, dass sie irgendwann einmal beschlossen hat, sich das Bild niemals in Sommerfarben ansehen zu wollen.
Das Eis muss noch dünn sein, am offenen Rand drängen sich Enten und Schwäne im Wasser. Eine beachtliche Schneeschicht trägt die glatte Fläche aber schon, die rosenrot im Licht schimmert. Bläuliche kleine Nebel steigen am Uferrand auf. Dunkel hängen die Zweige der schneebedeckten Tannen fast bis auf das Eis hinunter. Vollgesogen mit Nässe, nun tiefgefroren, tragen sie schwer an ihrer Last. Schneekristalle funkeln in der klaren Luft, leuchten in allen Farben des Regenbogens.
Nina schiebt das kalte Weiß von einem kleinen Bänkchen und setzt sich hin. Alle Mühe, alle Genervtheit der vergangenen Wochen fällt von ihr ab. Der Augenblick ist so still und friedlich, dass sie sich nicht lösen kann, bis ihr endlich bewusst wird, wie fahl das Licht schon wird
Jetzt aber los!
An dieser Stelle hat sie zwei Drittel der Runde bewältigt. Etwas bergauf wird es noch gehen, dann muss sie die Ski nur noch laufen lassen und wird in kaum einer halben Stunde zurück beim Parkplatz sein. Ein letzter Blick noch auf den starren friedlichen See, dann beginnt sie den Anstieg. Nina kommt ins Keuchen.
Ab und zu muss sie stehen bleiben, die Ski weit gespreizt am Hang. Es hat wieder zu schneien begonnen. Sie öffnet den hochgezogenen Reißverschluss des Overalls, lässt dicke, kühle Flocken auf ihrem erhitzten Hals schmelzen. Das Schneetreiben wird dichter. Wind kommt auf, wird schnell heftiger. Sie sieht kaum noch die Hand vor Augen. Die Loipe ist jetzt beinahe nicht mehr erkennbar.
Und endet plötzlich!
Noch nie hat sie es in den letzten Jahren erlebt, dass diese Route nicht sauber durchgespurt war, obwohl sie nicht zu den meistbenutzten, gut beleuchteten gehört, auf denen sich sogar noch am späten Abend die Touristen tummeln.
Wer, zum Teufel, war hier bloß so faul? Was soll ich jetzt tun? Umkehren? Keine gute Idee! Der Weg wäre viel zu weit!
Sie überlegt, ob es sinnvoll wäre, Hilfe zu rufen, zieht ihr Handy aus der Brusttasche und flucht. „Nie wieder O2! Kein Empfang, … verdammt!“
Nina beschließt, sich auf ihren Orientierungssinn zu verlassen. Sie kennt sich doch hier aus, ist die Runde schon zig Mal gelaufen. Allerdings noch niemals bei Nacht. Sie ist kein Angsthase, aber langsam dringt in ihr Bewusstsein, dass sie zwar kaum zwei Kilometer von ihrem sicheren, schützenden Auto, vielleicht eine halbe Fahrtstunde von der Stadt entfernt ist, und dennoch faktisch allein in der Wildnis steht.
Furcht steigt in ihr hoch, kriecht über den nackten Hals, lässt sie den Reißverschluss mit unsicherer Geste hochziehen. Sie steht und horcht. Hört die Stimmen der frühen Nacht. Eingepackt in das Wattepolster des immer heftiger werdenden Flockenwirbels wird jedes Rauschen in den Wipfeln der Tannen, jedes Ächzen der alten Stämme unter der Last des Schnees zur uneinschätzbaren Bedrohung. Sie muss sich zusammenreißen. Langsam ertastet sie den Weg, den sie für den richtigen hält. Ein Stückchen noch bergauf, dann etwas vorsichtig an der Schlucht vorbei.
Rechts halten! Gut!
Der Sturm pfeift ihr um die Ohren. Ein weiteres Sinnesorgan beginnt, sie zu trügen. Die Tannen schütteln sich, werfen kleine Lawinen nach ihr. Dünne Äste brechen im Wind. Sie weiß, dass der Pfad hier schmaler wird. Während sich auf der rechten Seite eine Felswand erhebt, geht es links wirklich sehr steil hinab. Kein Problem bei Helligkeit, aber unter diesen Umständen eine nervenzerfetzende Anspannung.
Rechts halten!
Der Boden unter ihrem linken Ski gibt nach. Instinktiv verlagert sie das Gewicht auf das rechte Bein. Aber sie ist schon zu dicht am Abgrund. Auch der rechte Ski rutscht unter ihr weg. Nina versucht, sich irgendwo festzuklammern, findet mit ihren dicken Handschuhen an der eisigen Wand keinen Griff. Im Fallen ist sie sich völlig bewusst, was jetzt passiert. Es wird mindestens zehn Meter in die Tiefe gehen. Der weiche Schnee wird den Absturz mildern. Die Bindungen haben sich blitzschnell gelöst. Sie macht sich rund, bemüht den Kopf zu schützen. Und kann dennoch nicht verhindern, ungebremst und hart an einen Stamm zu schlagen, der sich fest verwurzelt in den Abhang krallt.
2. Kapitel
Ben liegt in seinem Korb und schnarcht. Es beginnt gemütlich warm zu werden in der
Weitere Kostenlose Bücher