Snow Angel
Hütte.
Raus aus dem Gedränge der Stadt, Schluss mit der Hetzerei, die über den Jahreswechsel immer unerträglicher geworden ist. „Zeit der Besinnung! Vorbei die besinnungslose Besinnlichkeit!“, murmelt Simon, als er zufrieden seinen schlafenden jungen Hund ansieht.
Am Mittag hat er seinen Cherokee vollgepackt mit allem, was ein Mann und ein Hund für ein paar freie Tage brauchen können. Lizzy, seine gegenwärtige Herzdame, hatte nur angeekelt den perfekt geschminkten, zugegebenermaßen sehr hübschen Mund unter ihrer ebenso perfekt geschwungenen Nase verzogen, als er ihr vorschlug, mal nur zu zweit und in Ruhe draußen in der Jagdhütte eine Auszeit zu nehmen. Ein etwas halbherziger Versuch seinerseits, sie zu überzeugen, war kläglich gescheitert. Zu viele wunderbare, völlig einzigartige und unerlässliche „Party-Events“, die sie unter gar keinen Umständen versäumen wollte, hatte sie in die Diskussion geworfen. Es war Ball-Zeit.
Er wollte sie alle versäumen! Die ganze aufgetakelte Society konnte ihm mal im Mondschein begegnen. Oder, noch besser: gar nicht!
Eigentlich hätte er sie ganz gerne mitgenommen. Er hatte sich die Sache so schön ausgemalt. Gemütlich am Kamin sitzen, lesen, reden, Tee trinken, zusammen kochen, den Winter genießen, endlich mal wieder ungehetzten Sex haben … nur diese paar wenigen Tage lang. Aber gut, als sie nach einem heftigen Streit mit einem Tritt ihrer zierlichen Stiefelchen die Haustür von außen zugeworfen hatte, war ihm nur noch ein „Leck mich!“ herausgerutscht, das ihre niedlichen Öhrchen gar nicht mehr erreicht hatte.
Es hatte gedauert, bis alles im Blockhaus verstaut gewesen war. Genug Lebensmittel, um eine ganze Kompanie festlich bewirten zu können, packte er in den gasbetriebenen Kühlschrank. Die frische Luft des sonnigen Mittags, die durch die weit geöffneten Fenster geströmt war, hatte den leicht muffigen Geruch aus der Hütte vertrieben. Lange ist er schon nicht mehr hier gewesen. Mit dem gut abgelagerten Holz, das sauber aufgeschichtet an der Rückseite des Hauses liegt, und einer Handvoll Kienäppel ist der Kamin schnell angefeuert, und der rustikale Kachelofen, der das Schlafzimmer heizt, beginnt eine wohlige Wärme zu verströmen. Eier, Bratkartoffeln und Speck hat er sich am späten Nachmittag in die Pfanne gehauen und genießt nun die absolute Ruhe hinter den geschlossenen Fensterläden mit einem Glas guten schottischen Whiskeys und einem Buch, das er schon seit Monaten lesen wollte.
Leise knarren die dicken Blockbohlen. Es ist wieder stürmisch geworden. Als die kleine Kuckucksuhr, ein Geschenk seiner Mutter, das sie für ein unverzichtbares Utensil in einer Jagdhütte hält, sechs Mal krächzt, hebt Ben den Kopf, steht aus seinem Korb auf und legt Simon die Schnauze aufs Knie. Auffordernd sieht der Hund seinen Herrn an.
„Du musst mal raus! Warte, ich zieh mir nur was an.“
Als Simon die schwere Tür öffnet, reißt der Wind sie ihm beinahe aus der Hand, und ein dichter Schwall Schneeflocken weht ihm ins Haus. „Komm, Hund, lass uns das schnell erledigen. Ist ja widerlich draußen.“
Ben sieht das Ganze nicht so eng. Als Berner Sennerhund hat er überhaupt kein Problem mit dem Wetter. Er trollt sich so schnell davon, dass Simon Mühe hat, ihm durch den tiefen Schnee zu folgen. Mit der Taschenlampe in der Hand orientiert er sich an den Spuren. Plötzlich gibt der Hund Laut. Er steht direkt am Rand des Abhanges und bellt wie ein Verrückter.
„Was ist? Ein abgestürztes Reh? Reg dich nicht auf, ich komme ja schon!“
Das Licht der Taschenlampe trifft zuerst auf einen Langlaufski, der in einigen Metern Tiefe senkrecht in einer Schneewehe steckt. „Oh Scheiße!“, entfährt es Simon. Der Ernst der Lage wird ihm sofort bewusst, als der Kegel der Lampe einen schneebedeckten Körper beleuchtet, der reglos am Fuße eines dürren Baumes auf halber Höhe des Hanges liegt.
Es macht keinen Sinn, Hilfe herbeizuholen. Das ist ihm vollkommen klar. Durch diesen Tiefschnee wird so schnell niemand bis hierher durchkommen. Schon heute Mittag hat der Geländewagen zu kämpfen gehabt, den schmalen Weg herauf zu schaffen.
Er muss alleine handeln.
Ben springt bellend neben ihm her, als Simon zur Hütte zurückstapft, um Seile und die leistungsstarke Maglite zu holen. Er braucht mehr Licht für die Bergungsaktion.
Das Mädchen reagiert zunächst nicht, als er sich zu ihr abgeseilt hat und sie
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