Snow Angel
alleine stehen“, antwortet Nina und rubbelt sich die Arme warm.
„Schade eigentlich“, erwidert Simon mit einem Grinsen, „du warst so schön hilflos! Aber warte mal, ganz ohne mich kommst du ja doch nicht klar, halb nackt, wie du bist. Ich hole dir mal ein paar anständige Socken und einen Bademantel.“
Ach guck, er mag das, mich zu bemuttern! Kein Problem. Wenn er mich gerne hilflos hat, kann ich wahnsinnig hilflos sein.
Als sie die überdimensionalen wollenen Männersocken an den Füßen, in den Morgenmantel geschlüpft ist, dessen Ärmel sie dreimal umkrempeln muss, um überhaupt ihre Hände benutzen zu können, hat Simon schon den Kühlschrank geplündert und eine unglaubliche Auswahl leckerer Sachen auf den Tisch gestellt. Die Eier, die er aus einem Warmhaltekörbchen nimmt, hätten einer jungen Straußenmutter zur Ehre gereicht. Der Kaffee dampft in Tassen, die ungefähr die Größe von Gefäßen haben, aus denen man gemeinhin Pferde tränkt. Nina muss ihren Becher mit beiden Händen heben. Jede einzelne der Brotscheiben, die er abgeschnitten hat, hätte ausgereicht, Lizzys Kalorienbedarf für mindestens eine Woche reichlich zu decken. Er legt Nina zwei davon auf das hölzerne Brettchen.
„Iss, du kannst es gebrauchen!“, sagt er im Befehlston. „Kannst gern mehr haben.“
Nina isst. Und fühlt sich pudelwohl. „Wie kalt ist es eigentlich draußen?“
„Minus zwölf! Ich glaube, die Nacht wäre dir nicht gut bekommen, da hinten im Hang.“
„Wo hast du eigentlich geschlafen?“, fragt Nina und ahnt die Antwort schon, denn auf dem Sofa liegt ein Kopfkissen unter einigen sauber zusammengefalteten Decken. „Meine Güte, das ist doch viel zu kurz für dich! Bloß gut, dass du mich heute wieder loswirst!“ Sehr genau beobachtet Nina seine Reaktion und nimmt mit Genugtuung seine missbilligend hochgezogenen Augenbrauen wahr.
„Na ja, ich habe schon besser geschlafen, aber ich muss gestehen, ich war auch ganz schön k.o. gestern. Da fiel es nicht so auf. By the way, du glaubst, du kommst heute von hier fort? Ich glaube, das kannst du vergessen. Mein Allrad hatte es gestern schon ziemlich schwer, hier hochzukommen. Wir haben mindestens vierzig Zentimeter Neuschnee gekriegt. Und es schneit weiter.“
„Scheiße!“, schimpft Nina und denkt: Y
es!
„Mein blödes O2-Netz funktioniert hier nicht, und meine Eltern werden tausend Tode sterben, wenn ich mich heute nicht bei ihnen melde. Normalerweise telefonieren wir jeden Abend. Sie werden sich schon jetzt Sorgen machen. Hast du ein Handy mit?“
„Ja, sicher. Aber es funktioniert genauso wenig wie deins. Hier oben sitzen wir in einem totalen Funkloch. Das hat mal ausnahmsweise nichts mit deinem Anbieter zu tun. Wir könnten es natürlich mit Rauchzeichen versuchen. Aber sag mal, wie alt bist du eigentlich, dass du jeden Abend bei Mami und Papi zum Rapport antreten musst?“
Jetzt bloß nicht blöd im Kopf und wie ein unmündiges Baby rüberkommen!
„Ach, das ist nur so, wenn sie im Urlaub sind. Offenbar haben sie so eine Art 'Nina allein zu Haus' vor Augen“, kichert sie und wird ein bisschen rot. „Ich bin gerade zwanzig geworden. Kurz vorm Abitur. Letztes Jahr ist mir auf einer ziemlich schwierigen Skiabfahrt jemand direkt in die Seite geknallt. Ich hatte einen offenen Schienbeinbruch und musste lange in der Klinik liegen. Danach war Reha angesagt. Alles super verheilt. Aber es ist natürlich viel Stoff an mir vorbeigerauscht. Ich habe dann lieber wiederholt und stehe jetzt richtig gut da.“
*
Simon hört ihr aufmerksam zu. Die Altersangabe beruhigt ihn. Sie sieht noch so jung aus. Das mag natürlich auch an den heftig überdimensionierten Klamotten liegen, die er ihr gegeben hat. Sie versinkt darin wie eine zerbrechliche Puppe. Irgendwo im Haus müsste von damals noch etwas Passenderes rumliegen. Er beschließt nachzusehen. Ärgerlich findet er allerdings die Tatsache, dass jemand auf ihren Anruf wartet. Irgendwie muss sie ja auch überhaupt in den Wald gekommen sein. Er hat keine Lust, sich seine schönen Pläne mit ihr durch aufgescheuchte Verwandtschaft verderben zu lassen. Zu verlockend ist die Aussicht, die Tage hier oben doch nicht ganz allein verbringen zu müssen. Also muss ihm etwas einfallen. „Wie bist du hergekommen?“, fragt er nach.
„Mein Auto steht unten am Waldparkplatz. Meine Eltern werden ganz sicher spätestens heute eine Vermisstenanzeige aufgeben, wenn ich mich nicht melde“, flachst
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