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So gut wie tot

Titel: So gut wie tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter James
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zu unterdrücken. Es war, als hinge die ganze verdammte Kiste an einem einzigen zerfaserten Seil.
    Dann plötzlich ein reißendes Geräusch von oben. Metall barst. In namenlosem Entsetzen schaute sie zur Decke. Mit Aufzügen kannte sie sich nicht aus, aber es hörte sich an, als gäbe etwas nach. Ihre Fantasie lief Amok, sie stellte sich vor, wie die Befestigung des Kabels sich allmählich löste.
    Der Aufzug rutschte einige Zentimeter ab.
    Sie kreischte.
    Noch ein Stück, der Boden neigte sich weiter.
    Mit einem lauten Scheppern kippte die Kabine nach links, sackte weiter ab. Ein scharfes Knacken erklang, als würde etwas reißen.
    Noch tiefer.
    Abby versuchte, das Gleichgewicht zu halten, kippte um, prallte mit der Schulter gegen die Wand und dann mit dem Kopf gegen die Tür. Sie blieb einen Augenblick still liegen, atmete den staubigen Geruch des Teppichs ein, wagte nicht, sich zu rühren, schaute nur zur Decke hinauf. Dort befand sich eine undurchsichtige Glasscheibe, die von Leuchtstreifen eingerahmt wurde. Sie musste raus hier, und zwar schnell. In Filmen hatten Aufzüge immer eine Dachluke. Warum dieser nicht?
    Sie reichte nicht an die Bedienungsknöpfe heran. Sie versuchte, sich hinzuknien, doch der Aufzug schwankte wild hin und her und prallte gegen die Wände des Schachts, als hinge er wirklich nur noch an einem dünnen Faden. Sie hielt inne. Fürchtete, das Kabel könnte ganz reißen.
    Sie lag ganz still, hyperventilierte, horchte auf Hilfe. Nichts. Falls Hassan nicht da war und die übrigen Bewohner ebenfalls unterwegs waren oder fernsahen, würde niemand sie hören.
    Alarm. Ich muss an den Alarmknopf.
    Sie atmete tief durch. Spürte einen Druck im Schädel, als wäre die Kopfhaut auf einmal zu eng. Die Wände rückten heran, rückten zurück und rückten heran, als befände sie sich im Inneren einer Lunge. Einer Lunge, die pulsierend atmete. Panik.
    »Hi«, flüsterte sie. Das hatte ihr die Therapeutin beigebracht, um einer aufkommenden Panikattacke zu begegnen. »Ich bin Abby Dawson. Mir geht es gut. Das ist nur eine verrückte chemische Reaktion. Mir geht es gut, ich befinde mich in meinem Körper, ich bin nicht tot, und es geht vorbei.«
    Sie rückte zentimeterweise zum Knopf. Der Boden wackelte und kreiste, als läge sie auf einem Teller, den ein Jongleur auf einem Stock balancierte. Sie konnte jeden Augenblick herunterfallen. Als Ruhe eingekehrt war, kroch sie weiter. Und weiter. Wieder zog eine blaue beißende Rauchwolke an ihr vorbei, lautlos wie ein Flaschengeist. Sie streckte den Arm aus, reckte ihn so weit es ging und drückte mit zitterndem Finger den grauen Metallknopf, auf dem in roten Buchstaben ALARM stand.
    Nichts passierte.
    5
    OKTOBER 2007 Als Roy Grace gedankenversunken mit dem grauen Hyundai in die Trafalgar Street einbog, war es fast dunkel. Die Straße mochte zwar voller Stolz nach einer siegreichen Seeschlacht benannt sein, war aber von vernachlässigten, schmutzigen Häusern und Geschäften gesäumt und wurde Tag und Nacht von Drogendealern frequentiert. Zum Glück hielt das schlechte Wetter die meisten im Haus. Glenn Branson saß, wie immer schick in braunem Nadelstreifenanzug und makelloser Seidenkrawatte, mürrisch schweigend neben ihm.
    Anders als die meisten Dienstwagen stank der neue Hyundai noch nicht nach McDonald’s und altem Haargel, sondern roch, wie ein neues Auto riechen sollte. Grace bog nach rechts ab und fuhr am Bretterzaun eines Bauunternehmens vorbei. Dahinter wurde ein großes, heruntergekommenes Gelände mitten in der Stadt saniert. Zwei alte Güterbahnhöfe sollten einem schicken Neubaukomplex weichen.
    Der Bretterzaun präsentierte ein Hochglanzbild der architektonischen Visionen. NEW ENGLAND QUARTER. HÄUSER UND BÜROS MIT ANSPRUCH. Es sah aus wie alle modernen Neu bauten, die überall im Land aus dem Boden schossen, dachte Grace. Glas, freiliegende Stahlträger, Höfe mit netten Büschen und Bäumen und kein einziger Ganove in Sicht. Irgendwann würde ganz England gleich aussehen, sodass man nicht mehr wusste, in welcher Stadt man sich befand.
    Was wäre so schlimm daran?, fragte er sich. Bin ich mit neununddreißig schon ein alter Knacker? Will ich denn wirklich, dass die Stadt, an der ich so hänge, mit ihrem alten Dreck in einer Zeitschleife stecken bleibt?
    Allerdings hatte er im Augenblick Wichtigeres zu bedenken als die Stadtplanung von Brighton and Hove. Es war auch wichtiger als die menschlichen Überreste, die sie sich gleich anschauen würden.

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