So habe ich es mir nicht vorgestellt
Ja’ara. »Chalale versucht schon seit heute morgen, dich zu erreichen.«
»Chalale?« fragte Jo’ela. »Ist was mit Tante Sarah?«
»Nein, es geht um sie selbst«, versicherte Ja’ara. »Tante Sarah geht es gut, Oma geht es gut, aber Chalale hat Wehen oder so was, und sie hat gebeten, daß du kein Wort zu Tante Sarah sagst. Du sollst sie nur schnell anrufen.«
»Aber sie hat doch noch Zeit«, sagte Jo’ela. »Es ist noch lange nicht soweit.«
Chalale war die Tochter von Tante Sarah, der Tante, die eigentlich eine Freundin der Mutter war, wie eine Schwester – »mehr als eine Schwester« hatte ihr Vater gesagt. Eigentlich hieß sie Chana – den Namen Chalale hatte sie bekommen, als Jo’elas kleiner Bruder noch nicht richtig sprechen konnte, und er war an ihr hängengeblieben, gehörte sozusagen zur Familiensprache, die meisten nannten sie so. Als Jo’el, der an der Tür lehnte, lächelte, hörte Jo’ela plötzlich wieder die Stimme ihres kleinen Bruders, wie er »Chalale, Chalale!« rief.
Jo’ela rief sofort bei Chanale an, Tante Sarahs einziger Tochter, die nach mehreren Abgängen und unter großen Mühen geboren worden war und nun, vier Wochen vor dem errechneten Geburtstermin, Wehen bekommen hatte. »Ich habe darauf gewartet, daß du mir sagst, was ich tun soll«, sagte Chanale atemlos am anderen Ende der Leitung. »Kommst du? Du hast es mir versprochen.«
»Es dauert eine Weile, bis ich da bin«, antwortete Jo’ela zögernd. »Sag zu Professor Margaliot, ich würde ihn darum bitten, daß er dich selbst untersucht. Bis du dort bist, bis man dich aufgenommen hat, bis man dir einen Einlauf und das alles gemacht hat, bin ich da.«
Jo’el lehnte am Türpfosten. Sie stand ihm gegenüber. Er breitete die Arme aus und versperrte ihr den Weg. »Zeig mir, wie sehr du es willst«, sagte er und legte seinen Mund an ihre Wange. »Es ist schön, wenn eine Frau es will«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Auch ein Dummkopf, der will, ist schön, glaub mir das.« Er legte ihr die Arme um den Hals. »Drück mich ganz fest, mit aller Kraft.« Jo’ela umarmte ihn. Es gibt Menschen, die vor der Stärke ihres Verlangens Angst bekommen. Und es gibt andere, die gerade dieses Verlangen suchen. Er blickte sie an und lächelte. Jo’ela lachte.
17. Auch ein alter Spiegel war einmal neu
Auf dem Weg zum Kreißsaal ging Jo’ela mit schnellen Schritten am Wartezimmer vorbei. Ohne nachzudenken, warf sie einen Blick hinein, drehte einfach aus alter Gewohnheit den Kopf, sah, ohne sie wirklich wahrzunehmen, die beiden Frauen, die dort nebeneinander saßen und sich leise unterhielten. Erst als sie schon ein paar Schritte weitergegangen war, wurde ihr bewußt, wen sie gesehen hatte, und sie eilte zurück. Einen Moment lang stand sie in der Tür und betrachtete die beiden, die da saßen, wie sie früher, als sie ein Kind war, in der Küche gesessen hatten. Das letzte Mal hatte sie sie während der Krankheit ihres Vaters so gesehen, als sie stundenlang im Flur des Krankenhauses gesessen hatten, so dicht nebeneinander, daß sich fast ihre Köpfe berührten. Tante Sarah, die Füße von sich gestreckt, sprach, während ihre Mutter mit geneigtem Kopf neben ihr saß, die Knie eng beieinander, den Blick auf die Schuhspitzen geheftet, als helfe ihr deren genaue Begutachtung, sich besser zu konzentrieren. Tante Sarah brach in ein leises Lachen aus, so wie früher, und die Mutter brachte sie erschrocken zum Schweigen.
Pnina saß da, in einem frühlingshaften Kostüm, das Jo’ela noch nicht kannte, blaue und grüne Blumen auf weißem Hintergrund, mit blauen hochhackigen Schuhen und dünnen Strümpfen – sogar ohne die dicken elastischen Strümpfe, die sie seit Jahren trug, um die sichtbaren Adern an ihren Knöcheln zu verbergen –, eine schwarze Ledertasche auf den Knien, die Lippen dunkelrot geschminkt. Ihre Brille hatte sie abgesetzt. Das Weiß ihrer Augen, umgeben von einem Kranz von Fältchen, war trüb geworden, das Blau verblaßt. Aber auch jetzt waren sie sorgfältig geschminkt, ein schwarzer Strich auf der Innenseite des unteren Lids, einer auf dem oberen.
»Da bist du ja«, rief Pnina. Ihre Erleichterung war an dem schnellen, prüfenden Blick zu erkennen, mit dem sie Jo’elas Schuhe, ihr Kleid und ihre Frisur musterte. An ihren überkreuzten Beinen und dem verschleierten Blick, der nacheinander pessimistische Zweifel, ein Bewußtsein für die Feierlichkeit des Moments und große Sorge ausdrückte, erkannte Jo’ela, wie
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