So habe ich es mir nicht vorgestellt
Kopf. »Ich habe ein Zimmer für mich allein, und im Garten … Ich sitze im Garten, und manchmal spiele ich mit dem Kleinen«, murmelte sie.
»Und die Leute? Ist das ihr Kind? Des Rabbiners Nechoschta’i und seiner Frau?«
»Sie haben noch ein Baby. Dieser da, Jizchakle, ist der Zweitjüngste, und dann gibt es noch zwei größere, alles Söhne, Gott sei Dank.« Sie lächelte den Kleinen an. Der Gummischlauch war vom Planschbecken gerutscht, das Wasser lief jetzt auf den Beton. Henia nahm den Schlauch und hängte ihn zurück ins Becken. Dann ging sie mit langen, schnellen Schritten zum Wasserhahn neben dem Haus, drehte ihn mit einem Griff zu und kam zurück. Sie hatte dabei den Jungen nicht aus den Augen gelassen.
»Sind sie Verwandte von dir?« fragte Jo’ela.
»Die Tante, die Frau des Rabbiners, ist eine Kusine meiner Mutter«, erklärte Henia verschämt. Dann fragte sie: »Hat mein Vater Sie geschickt? Hat er Ihnen gesagt, daß Sie herkommen sollen?«
»Nicht … nicht genau.« Jo’ela war verlegen. Daran hatte sie nicht gedacht. Erst jetzt wurde ihr klar, daß das Mädchen wirklich an ihren Eltern hing. »Ich bin gekommen, um zu sehen, ob es möglich ist … Ich möchte dir etwas erklären, damit du auch verstehst, wie wichtig es ist, daß wir dich untersuchen, damit wir herausfinden, was wir für dich tun können. Es ist zu deinem Besten.« Mit einem Gefühl des Abscheus hörte sie selbst ihre verlogenen Worte, die eigentlich ihre Anwesenheit hier nicht erklärten, auch nicht das bißchen Wahrheit, das in ihnen enthalten war. Das Mädchen blickte sie mit diesen blauen vernünftigen Augen an, warf dann einen Blick auf den Jungen, der mit den Händen auf das Wasser platschte.
»Mein Vater hat mir alles Notwendige erklärt, und er hat gesagt – auch Rabbiner Perlschtajn hat das gesagt –, daß mit Gottes Hilfe alles in Ordnung kommt. Mein Vater wird mir sagen, wann.«
»Was heißt das, wann?« fragte Jo’ela. Ihre Worte hallten durch die Luft. Aus einer Seitentür neben dem Wasserhahn, die ihr bisher nicht aufgefallen war, trat eine Frau, ein Baby auf dem Arm. Sie trug ein weißes Kopftuch, und das weite, helle Kleid reichte ihr bis zu den Knöcheln. Dort, wo sie das Baby hielt, fast an der vage erkennbaren Hüftlinie, hatte sie einen großen Fleck auf dem Kleid. Ihre Augen, hell und groß, blinzelten gegen das Licht. Als sie nun lächelte, erschien ein tiefes Grübchen in ihrer rechten Backe, oberhalb eines Muttermals.
»Ich habe Stimmen gehört«, sagte die Frau entschuldigend. »Ich wollte sehen, mit wem du dich unterhältst.«
»Das ist Frau Doktor Goldschmidt aus dem Krankenhaus«, sagte das Mädchen mit dieser wohlklingenden, ganz normalen Stimme.
»Sehr angenehm«, sagte die Frau, aber eine Wolke von Unmut verdüsterte das schöne Gesicht. Das Grübchen war verschwunden, und ihre Arme umklammerten das Baby.
Jo’ela zog die Schultern hoch, kroch fast in sich hinein. Wie hätte sie in dieser Umgebung dem Mädchen etwas erklären können? In dieser Panik? Sie ärgerte sich über sich selbst und über Hila. Was hatte sie erwartet? Was hatte sie sich vorgestellt?
»Ich war zufällig in der Gegend«, sagte sie, »und da habe ich mir gedacht … Die Rabbinerin hat es mir gesagt.«
Im Gesicht der Frau zeigte sich Erleichterung. Sie lächelte, und das Muttermal verschwand fast in dem Grübchen. »Die Rabbinerin«, sagte sie zufrieden, »hat Sie also gebeten, nachzuschauen, was mit unserer Henia ist? Sie sieht gut aus, Gott sei Dank, es geht ihr gut bei uns, nicht wahr, Henia?«
Das Mädchen lächelte schüchtern. »Nia, Nia«, krähte der kleine Junge aus dem Wasser und streckte ihr die nassen Arme entgegen.
»Kommen Sie doch herein, bitte«, sagte die Frau und ging Jo’ela voraus zur Seitentür. »Trinken Sie etwas Kaltes, ruhen Sie sich ein wenig aus. Wenn Gott will, werden wir …«
Von den Füßen aufwärts stieg Angst in Jo’ela hoch. Sie würden es herausfinden. Schnell blickte sie auf die Uhr. »Man wartet auf mich in … Ich muß mich beeilen.«
»Auch kein Glas Saft?« fragte die Frau bedauernd. »Wasser? An einem so heißen Tag? Heniale, hol doch mal schnell …«
»Nein, nein, nein, danke, wirklich nicht«, beharrte Jo’ela und ging ein paar Schritte rückwärts. »Ich möchte mich jetzt verabschieden, vielleicht ein andermal …« Im Sprechen hielt sie Henia die Hand hin. Das Mädchen blickte sie zögernd an, wandte den Kopf zu ihrer Tante und legte dann ihre Hand in Jo’elas.
Weitere Kostenlose Bücher