Racheblut
1
Zwei Nächte war es jetzt her, dass sie Jamilla weggebracht hatten, und ihre Schreie hallten Tara immer noch im Ohr. Seitdem hatte sie nichts mehr gehört. Also war ihre Freundin tot.
Tara wusste, dass sie die Nächste sein würde. So einfach war das. Deshalb war sie hier. Um zu sterben. Sie hatte keine Ahnung, was sie getan haben sollte, um dieses Schicksal zu verdienen.
Eines Abends – lag es eine Woche zurück oder zwei? – war sie in dem schmutzigen kleinen Loch, das sie ihr Heim nannte, eingeschlafen, während von draußen das unaufhörliche Brummen der Busse hereindrang, und als sie wieder aufwachte, befand sie sich in dieser fensterlosen Zelle, in diesem Albtraum: nackt, mit nur einer Decke zum Zudecken und mit dem Knöchel an die Wand gekettet wie ein misshandeltes Tier.
Zunächst hatte sie geglaubt, sie sei vollkommen allein, umgeben von schweigenden Wänden, und hatte vor Verzweiflung zu schluchzen begonnen. Doch dann hatte sie durch die Wand eine Stimme vernommen, die auf Albanisch nach ihrem Namen fragte. Das war Jamilla gewesen, die in der Zelle nebenan gefangen gehalten wurde.
Jamilla hatte ihr erzählt, dass das, was Tara passiert war, auch ihr passiert war – nicht nur die Entführung. Wie Tara war sie von einem Mann dazu überredet worden, nach England zu kommen. Der Mann hatte ihr einen guten Job versprochen und die Erlösung von der bitteren Armut zu Hause, sie aber in ein Bordell gesteckt, wo sie als Sexsklavin gehalten wurde. Und beide kamen sie aus der gleichen Gegend im Kosovo.
Stundenlang hatten sie und Jamilla miteinander geredet. Über ihr Zuhause, die Familie, ihre Hoffnungen und Träume und was sie tun würden, wenn sie hier herauskämen (Jamilla wollte nach Paris und auf den Eiffelturm, Tara reiten lernen).
Doch nun war Tara allein, und ihre einzige Gesellschaft war die Totenstille ringsherum.
Das bedeutete allerdings nicht, dass sie aufgegeben hätte. Im Gegenteil, Jamillas Schicksal hatte sie zu neuer Entschlossenheit angetrieben. Tara würde entkommen. Und sie hatte auch einen Plan, wie. Hinter ihr, dort, wo sie gewöhnlich hockte, war in der Wand ein Ziegel locker. Gleich am ersten Tag hatte sie ihn entdeckt. Und seitdem hatte sie daran gearbeitet, um ihn herauszulösen. Zwar hatte sie sich dabei nacheinander alle Fingernägel abgebrochen, doch schließlich war es ihr gelungen, den Mörtel so weit wegzukratzen, dass sie den Stein zu fassen bekam und ihn langsam herauswinden konnte.
Jetzt hielt sie einen massiven Ziegel in der Hand – eine gute Waffe, wenn sie nur über die körperliche Stärke und die Chance verfügte, sie effektiv einzusetzen.
Tara hatte ihren Bewacher nie zu Gesicht bekommen. Die paar Mal, die er in ihre Zelle getreten war, um den Eimer zu wechseln, den sie als Toilette benutzte, musste sie sich immer zur Wand drehen. Die Befehle erteilte er auf Albanisch, allerdings mit einem schweren Akzent, den sie nicht ausmachen konnte. Es klang aber, als wären das die einzigen albanischen Wörter, die er kannte. Zweimal täglich schob er einen Teller mit Nahrung und eine Plastikflasche mit Wasser durch einen Schlitz in der Zellentür. Immer trug er dabei schwarze Handschuhe, doch manchmal rutschten seine Ärmel nach oben, und sie sah den dichten Haarwuchs auf seinen Armen sowie die gewundenen Umrisse einer Tätowierung.
Jetzt hörte sie ihn wieder. Er war draußen vor der Tür. Sie schob den Ziegel hinter sich und hoffte, dass er hereinkommen würde. Eine bessere Gelegenheit würde sie wahrscheinlich nicht erhalten.
Doch dann klappte er nur den Schlitz auf.
Normalerweise bedeckte sie sich mit der Decke, wenn sie ihn hörte, doch diesmal strampelte sie sie weg und stöhnte tief und schmerzvoll. Es sollte klingen, als wäre sie krank, und gleichzeitig rieb sie sich mit den Händen den Bauch und verzog das Gesicht. Die Zellentür hatte einen Spion, sie wusste, er würde zu ihr hereinschauen, um sie zu kontrollieren. Wahrscheinlich wäre ihm ihre Gesundheit egal, doch wenn er sie nackt sah, würde er sich vielleicht für sie interessieren. Zumindest hatte ihr nackter Körper das Interesse all der vielen anderen Männer geweckt, denen sie in den vergangenen Monaten zu willen hatte sein müssen.
Sie stöhnte wieder, lauter diesmal und länger, und der Schlitz klappte zu, ohne dass das Essen durchgeschoben wurde.
Stattdessen hörte sie, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Der Mann kam herein, groß und ganz in Schwarz gekleidet, mit einer Skimaske über
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