So muss die Welt enden
der Einkünfte willen.«
»Ich täte meinen…«
Furcht bewog den Knaben zum Schweigen. Eine garstige, schwarze Wespe hatte sich durch den Vorhang hereingetastet und schwirrte nun durch das Geheimkabinett. Sie summte gehörig. Der Knabe suchte Schutz hinter einer riesigen Weltkugel.
»Keine Bange, kleiner Jude. Sie wird dich nicht stechen.«
»Bei aller Hochachtung vor Euch, Monsieur…« Die Mütze erhoben, schlich Jakob vorwärts. »Da hab ich meine Zweifel.«
Er schlug die Wespe auf die Dielen und zertrat sie bis zur Unkenntlichkeit.
»Wieso seid Ihr Euch dessen sicher gewesen, daß sie mich nicht gestochen hätte?« fragte der Knabe im Anschluß.
»Ich vermochte vorauszusagen, daß du sie zuvor zermalmst.«
Jakob zog sich wieder die Mütze aufs Haupt, verlieh ihr festen Sitz, indem er seine Locken unters Schweißband stopfte. »Wird das Kind meine Mutter das Leben kosten?«
»Deine Mutter wird die siebzig erleben. Überdies wird Truman, entgegen allen Voranzeigen, über Dewey siegen.«
»Ihr seid wahrlich begnadet, Monsieur.«
Ein liebenswerter Bursche, dachte sich der Prophet. Er weiß meine Begabung zu würdigen, verheimlicht nicht seinen Glauben und kann hurtig mit der Mütze zuhauen. Falls meine Darbietung einen so pfiffigen Kerl in Erstaunen versetzt, wird sie mit Gewißheit das Gesindel erst recht in tiefste Ehrfurcht stürzen.
»Sag an, Meister Jakob«, fragte der Prophet, öffnete eine Truhe aus Walnußholz und holte eine Gerätschaft aus Metall und Glas heraus, »möchtest du gerne die Zukunft sehen?«
»Sehr gern.«
Nostradamus trug die Vorrichtung zu seinem Schreibpult. Dem Knaben bebten die Lippen. Er machte große Augen.
»Mit Recht empfindest du Ehrfurcht, denn der Mann, der dies Gerät ersonnen hat, ist der wundersamste Mensch unseres Zeitalters. Rasch, sag mir, wer ist der wundersamste Mensch unseres Zeitalters?«
»Ihr, mein Herr.«
Nacheinander schmunzelte der Prophet und furchte die Stirn. »Der wundersamste Mensch unserer Zeit ist Leonardo da Vinci, der allein wußte, welche Miene jeder der Jünger zog, während sie mit Christus beim Abendmahl saßen.«
»Über Leonardo von Mailand hab ich reden hören.«
»Von Mailand, ja. Von Florenz, von Rom, von Vinci. Aber er endigte seinen Erdenweg in Frankreich, zu Amboise, dem Rittergut Close-Luce. Ich weilte an seinem Sterbebett. Mit seinem letzten Atemzug vererbte er mir diese Bilder-Kanone, wie er diesen Apparatus nannte. Monsieur Leonardo mochte Kanonen. Er schätzte alle Waffen. Zum Glück verschießt diese Kanone keine Kugeln.«
Jakob überwand seine Verwunderung und näherte sich dem Schreibpult. Die Maschine bestand aus einem Blechkasten mit einem Rauchabzug obenauf; an einer Seite ragte ein Rohr heraus, das einen Messingring hielt, in dem eine Kristallscheibe funkelte.
»Ich bin nicht älter als du gewesen, als dieser große Mann mich nach Amboise lud. Das geschah… anno 1518, in meinem ersten Schuljahr. Leonardo hatte Kunde von meiner Gabe vernommen. In Avignon rief man mich ›Kleiner Astrologe‹. Ich verspürte Zagen. War er doch der ruhmvolle Leonardo, Premier Peintre, Architecte et Mechanicien du Roi, und ich nur ein Lümmel von fünfzehn, der unter der Bürde besonderer Kräfte schmachtete. Wie es sich fügte, entbrannte er zu mir in Liebe, aber das ist eine gänzlich andere Geschichte. Er zeigte mir einige Entwürfe, Zeichnungen unserer Welt in ihren letzten Tagen, verwüstet durch Stürme und Fluten. ›Ist das die Weise, wie Gott Seine Schöpfung vertilgen wird?‹ frug er. Bruder Francesco übersetzte für uns. ›Nein‹, lautete meine Antwort. >Ich habe es mir auch nicht so gedacht<, gab er zu. Daraufhin beschrieb ich ihm, wie unsere Welt enden soll. ›Weder wird es ein Akt Gottes sein‹, verdeutlichte ich, ›noch der Natur, sondern es wird eine Feuersbrunst kommen, die Menschenwerk ist.‹ Er malte, was ich ihm schilderte: Wie aus den Rücken eherner Wale verschleuderte, große Speere Feuerbälle entfachen. Die Bildnisse gelangen aufs vollkommenste, geradeso als hätte er mir ins Haupt geblickt. Er hat sie auf Glas gemalt. Mag es auch seltsam klingen, dem Anschein nach reizten Leonardo allein vier der einhundert furchtbaren Ereignisse, die ich vortrug, zum Verdruß. Alle betrafen sie Geier. ›Bist du dir sicher, daß Geier an diesem Krieg teilhaben werden?‹ frug er mich wiederholte Male. ›Vollauf sicher‹, beschied ich ihn stets. ›Einmal ereilte mich die Heimsuchung durch einen Geier‹,
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