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So still die Nacht

So still die Nacht

Titel: So still die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Lenox
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Lucinda.
    »Man hat ihn seit Monaten nicht mehr gesehen«, befand ihr Onkel. »Einige der Burschen im Club haben sogar behauptet …«
    Er brach abrupt ab und zog die Brauen zusammen, sein Lächeln verblasste, und er wirkte zerknirscht.
    »Haben was behauptet?«, fragte Lucinda, deren Stimme nur noch ein ersticktes Flüstern war.
    » Ach nichts, Liebes. Sie haben es sich angewöhnt, ihn Jack zu nennen … Jack the Ripper, der … ähm, weil ungefähr gleichzeitig mit seinem Verschwinden auch die Ripper-Morde aufhörten.«
    »Trafford! Ein solch trivialer Humor, und das bei einem Anlass wie diesem. Du musst dich sofort bei unserer Nichte entschuldigen …«
    Plötzlich erhob sich ein großer Schwarm Vögel aus den Eichen, und die Luft war erfüllt vom Klatschen der Flügel. Die Trauergemeinde hielt ihre Hauben und Zylinder fest, während alle beobachteten, wie sich die schattenhafte Wolke gleich einem aufgeschreckten Gespenst erhob und über den Baumwipfeln verschwand. Anschließend nahm Mina vage wahr, dass der gut aussehende Herr, der neben der Kapelle gestanden hatte, verschwunden war. Sie spürte eine unerwartete Enttäuschung.
    Lucinda und die Mädchen gingen zu ihrer Kutsche voraus; Mina und ihr Onkel folgten mit einigen Schritten Abstand, bis ein ältlicher Herr ihnen in den Weg trat. Nachdem er ihnen sein Beileid bekundet hatte, bat er höflich um eine Unterredung mit Lord Trafford wegen eines Pferds.
    Mina entschuldigte sich und ging einige Schritte weiter, wohl wissend, dass dies ihr letztes Stückchen Freiheit war, bevor sie wieder von einem dicken schwarzen Meer verschlungen werden würde. Sie hatte so lange am Rand der feinen Gesellschaft gelebt, dass die verbleibenden Monate angemessener Trauerzeit auf ihr lasteten wie ein dichter, erdrückender Schleier.
    Sie hielt inne und lauschte.
    Hatte da jemand ihren Namen gesagt?
    Sie wandte ihr Gesicht in die Richtung, aus der die Stimme kam.
    Dort stand der Mann, den ihr Onkel als Lord Alexander identifiziert hatte. Ihr Herz tat einen kleinen Satz. Der Nachmittag war weit vorangeschritten, und die Bäume warfen bereits lange Schatten, aber wie war es möglich, dass sie ihn nicht hatte kommen sehen? Ein heftiger Schauer durchlief sie von ihrer mit einem Trauerflor versehenen Haube bis zu ihren Zehenspitzen in den schwarzen Lederschuhen – eine höchst unangemessene Reaktion, wenn man den Anlass bedachte, aber das brauchte ja niemand zu erfahren.
    Wie ihr Onkel trug der Mann einen maßgeschneiderten Anzug aus kostbarem Tuch, wie sie sich nur die Wohlhabenden in der berühmten Savile Row machen lassen konnten. Der Zeitung musste er sich zwischenzeitlich entledigt haben.
    »Miss Limpett?«, wiederholte er, während er gemessenen Schritts auf sie zukam.
    Sie konnte sich nur mit Mühe daran hindern, sich umzuschauen, ob nicht noch irgendeine Miss Limpett in der Nähe sein könnte. »Ja?«
    »Ich hoffe, Sie können es mir nachsehen, wenn ich die Regeln des Anstands verletze und mich mit Ihnen bekannt mache, ohne dass wir einander förmlich vorgestellt wurden.« Seine Stimme war voll und warm, seine Ausdrucksweise geschliffen. Er nahm den Hut ab und enthüllte kinnlanges blondes Haar mit dunkleren Strähnen. »Ich bin …«
    »Lord Alexander«, flüsterte sie.
    Sie errötete peinlich berührt; es war nicht ihre Absicht gewesen, seinen Namen laut auszusprechen.
    Ein schwaches Lächeln offenbarte einen Anflug von Eitelkeit. »Woher wussten Sie das?«
    »Mein Onkel hat Sie erkannt.«
    »Oh?« Freudig überrascht zog er die Augenbrauen hoch. »Das ist gut … oder vielleicht ist es sehr schlecht.« Er lachte kurz auf, tief in der Kehle, ein maskulines Lachen. »Das wird die Zeit zeigen, nehme ich an. Aber Sie sind der Grund, warum ich hier bin.« Seine Miene wurde wieder ernst. »Ich habe die Todesanzeige in der Zeitung gesehen und wusste, dass ich herkommen musste, um Ihnen mein Beileid auszusprechen.«
    Sie war überrascht und berührt. »Sie haben meinen Vater gekannt?«
    Er hob die Hand und nahm die Brille ab, eine Geste, die verblüffend hellblaue Augen offenbarte. Schwache Ringe verdunkelten die Stellen direkt über seinen Wangenknochen, als hätte er in letzter Zeit nicht genug Schlaf bekommen. Aber dieser kleiner Makel tat seiner Attraktivität keinen Abbruch.
    »Ich beschäftige mich laienhaft mit Sprachen. Im Grunde ein ganz und gar persönliches Interesse. Nichts auf dem Niveau der Fähigkeiten Ihres Vaters.«
    In diesem Moment nahm seine Anziehung eine andere

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