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So still die Nacht

So still die Nacht

Titel: So still die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Lenox
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Onkel war erstaunt. »Interessant. Ob ich ihn noch einholen kann?«
    »Bestimmt.« Sie hob die Hand. »Er ist gerade durchs Tor gegangen.«
    »Fahren Sie nur mit den Damen zum Gasthof.« Das Dorf Highgate lag auf einem Hügel nördlich der sich ausdehnenden Metropole London. Nicht nur die Trauerkutsche hatte Lord Trafford gemietet, sondern auch einen Landgasthof mit ausreichend Personal. Um der Bequemlichkeit willen hatte die Familie dort, in der Nähe des Friedhofs, am vorhergehenden Abend Quartier bezogen. »Richten Sie bitte Lucinda aus, dass ich in Kürze folgen werde und wir alle zusammen in die Stadt zurückfahren können.«
    Ihr Onkel schob sie auf die Kutsche zu und eilte hinter Lord Alexander her. Drei weibliche Gesichter, eingerahmt von Pelz und Federn, sahen Mina aus dem dunklen Inneren der Kutsche entgegen.
    Doch ihr Gespräch mit Lord Alexander hatte sie beunruhigt und daran erinnert, dass es andere Personen gab, verdächtiger und gefährlicher, die sich nicht so leicht abwimmeln ließen, um die Wahrheit zu erfahren. Eine plötzlich aufkommende Brise strich ihr über den Nacken, und sie schauderte trotz der Wärme des Abends.
    Sie konnte sich nicht überwinden, zu den anderen in die Kutsche zu steigen. Der Friedhof rief nach ihr, ein Hüter von Geheimnissen.
    Ihrer Geheimnisse.
    Wie konnte sie essen? Wie konnte sie schlafen, ehe sie sich sicher war?
    Auf der anderen Seite der Swain’s Lane, verborgen in einem kleinen Wäldchen, schloss Mark unter der ersten mächtigen und heißen Woge von Aoratos die Augen . Er stieß ein kehliges Knurren aus und zwang jeden Knochen, jede Zelle und jede Sehne seines Körpers zu schwinden … zu nichts zu werden. Unsichtbar zu werden.
    Verwandelt in eine Schattengestalt, trat er aus dem Wäldchen und lief gehetzt über die Straße zwischen den Kutschen hindurch, dahin, woher er gekommen war. Er gestattete sich ein einziges, verbotenes Vergnügen. Er streifte Miss Limpett und umschmeichelte sie. Er atmete ihren köstlichen Orangenblütenduft ein, der ihren ureigensten Geruch doch nicht ganz verdeckte – den Duft, der die Essenz ihres Wesens war und sie von allen anderen um sie herum unterschied. Er lächelte erfreut, als sie ihre behandschuhte Hand hob, um die nackte Haut über ihrem Kragen zu berühren, eine unbewusste Bestätigung seiner Anwesenheit.
    Er hatte sie schon einmal gesehen und sogar mit ihr gesprochen, obwohl sie es nicht wissen konnte, weil er damals in einem anderen Körper gesteckt hatte. Ihre ätherische Schönheit hatte ihn gefesselt. Jetzt fand er sie noch reizvoller. Zauberhaft. Aber er hatte keine Zeit zum Spielen.
    Er wandte sich von ihr ab und eilte auf die Kapelle zu. Um durch die bereits verschlossene Tür zu schlüpfen, machte er sich so dünn wie eine Rasierklinge. Er genoss seine Unsichtbarkeit, die rasante Schnelligkeit, mit der er sich bewegte, und die erhöhte Präzision seines Denkens. Er konnte sich kaum gestatten zu hoffen, dass er binnen Sekunden vielleicht endlich das Wissen besitzen würde, das notwendig war, um den Verfall seines Geists und seiner Seele rückgängig zu machen. Durch die hydraulische Totenbahre, auf der man den Sarg des Professors heruntergelassen hatte, schraubte er sich in das klaffende Loch im Boden und folgte dem noch in der Luft hängenden Körpergeruch der beiden Totengräber. Er lief ihnen durch den dunklen Tunnel nach, ging dann aber nicht unter der Swain’s Lane auf den Ostfriedhof zu, sondern lief auf das fahle Licht der Außentüren zu, zwischen einem Durcheinander an Grabdenkmälern hindurch.
    Er verlangsamte erst seine Schritte, als er sich in den Katakomben unterhalb der Kirche St. Michael befand.
    Mina trat von der Kutsche zurück. »Bitte, Lady Trafford, fahren Sie ohne mich los.«
    »Ich soll vorfahren?« Lady Traffords blaue Augen weiteten sich. »Wie meinen Sie das, Miss Limpett?«
    »Ich …« Mina schluckte. Dramatische Gesten waren noch nie ihre Stärke gewesen. »Ich brauche noch ein wenig Zeit mit meinem Vater.«
    Lucindas freundliche Miene schwand dahin, aber sie maskierte ihre Ungeduld schnell mit einer sympathischen Neigung des Kopfs und einem Lächeln. »Natürlich. Astrid, Evangeline, begleitet eure Cousine …«
    Ein Chor mürrischer Ablehnung erklang aus dem Inneren der Kutsche.
    Mina hob die Hand. »Nein, bitte. Ich möchte allein sein. Ich kann später zu Fuß zum Gasthaus gehen. Es ist nicht weit.«
    »Machen Sie sich nicht lächerlich. Auf dem Weg dorthin lagern auf einem Feld

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