So unselig schön
mir im Schrank verstauben, sehe ich sie lieber an dir.«
Vicki öffnete den Karton und holte die Schuhe aus sandfarbenem Wildleder mit türkisfarbenem Futter hervor. Sie öffnete den Klettverschluss und schlüpfte hinein. Der Schuh schmiegte sich an ihren Fuß wie maßgeschneidert.
»Na. Das sieht doch gleich ganz anders aus«, meinte Clara, nachdem Vicki beide Schuhe angezogen hatte.
»Danke.« Vicki wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte.
Clara lächelte. »Das mit der Kleidung kriegen wir auch noch hin. Wir haben ja noch zwei Jahre.«
Henriette kam zurück. Die Mittagspause war vorüber, und alle machten sich wieder an die Arbeit. Während Vicki Flugverbindungen für eine alte Dame heraussuchte, die zu ihrer Tochter nach Vancouver reisen wollte, dachte sie über Claras Bemerkung nach. Okay, pünktlicher war sie schon geworden, und vor allem hatte sie es geschafft, das Unkraut aus ihrer Sprache zu jäten, wie Clara das nannte. Sie hatte sogar jede Menge Bücher gelesen, um ihren Wortschatz zu reanimieren, der damals nach dem Wechsel vom Gymnasium auf die Hauptschule verschüttet worden war, wie durch einen Erdrutsch. Ihr Outfit wollte sie jedoch nicht ändern. Sie wollte nicht schön sein, kein Klischee erfüllen. Sie wollte irritieren. Die Leute guckten zwar, ließen sie aber in Ruhe.
Um halb sechs war Vickis Arbeitstag beendet. Sie räumte ihren Schreibtisch auf, fuhr den Rechner runter und stellte den Kaffeebecher in die Spülmaschine. Dann verabschiedete sie sich von Clara, die wie meistens länger blieb. »Danke noch mal für die Schuhe. Ich geh dann.«
Clara blickte auf, nahm Vickis Berichtsheft, das sie am Wochenende durchgesehen hatte, von einem Stapel und reichte es ihr. »Du machst gute Fortschritte. Nicht nur in deiner Ausdrucksweise. Aber das Heft ist nicht ganz vollständig. Über die Einführung in unser neues Buchungssystem steht noch nichts drin. Kannst du das bis Freitag nachholen?«
Vicki nickte.
»Und lerne zu Hause. Die Zwischenprüfung ist kein Honigschlecken. Wenn du erst kurz vorher damit anfängst, wird das nichts.«
Wieder nickte Vicki. Clara hatte ja recht. Trotzdem, heute Abend würde sie weder lernen noch Berichte schreiben. Das Wetter war schön, das Licht gut, und damit war klar, dass sie zur alten Brauerei radeln und dort weiter fotografieren würde. Am Samstag hatte sie abgebrochen, nachdem der Himmel sich mit Wolken bezogen hatte und das schöne Streiflicht futsch gewesen war. »Dann bis morgen.« Sie griff sich ihren Rucksack und ging.
Zwanzig Minuten später näherte Vicki sich ihrem Ziel, dem Gelände einer seit ewigen Zeiten verlassenen Brauerei in Solalinden. Dieser kleine Ort lag zwischen Putzbrunn und Waldperlach, eingebettet zwischen Feldern und einem Waldgebiet, das sich wie ein Keil zwischen die Trabantenstadt Neuperlach und jene Ansammlung von etwa zwanzig Häusern schob.
Vickis Rad holperte über den schmalen Weg, der von Südwesten kommend durch den Wald führte, der Rucksack wippte auf ihrem Rücken, die Sohlen der Sneakers gaben ihren Füßen Halt auf den Pedalen. Die nackten Beine hatten einige Kratzer abgekriegt, als Vicki eine Kurve zu eng genommen hatte und dabei beinahe in den Brombeeren gelandet war. Natürlich hätte sie über die Straße fahren können. Aber es musste ja nicht sein, dass irgend so ein Wichtigtuer aus dem Kaff mitbekam, wie sie da unbefugt rumturnte, und sich dann berufen fühlte, einzuschreiten oder gar die Bullen zu holen.
Der Wald wurde lichter, ein hoher, mit Stacheldraht bekränzter Bretterzaun kam in Sicht und dahinter das teilweise eingestürzte Dach der Brauerei. Vicki stieg ab und schob das Rad entlang des Zauns weiter in den Wald hinein, bis sie den Weg nicht mehr sehen konnte. Dort lehnte sie es an einen Baum und kettete es sicherheitshalber an. Einbrechen musste sie nicht. Bei ihrem ersten Besuch am Samstag hatte sie zwei lose Latten im Zaun entdeckt. Die schob sie nun zur Seite, bugsierte den Rucksack hindurch und zwängte sich durch die Lücke. Vor ihr lag ein asphaltierter Hof, dessen welliger Belag voller Löcher und Risse war. Unkraut und Büsche sprossen daraus hervor. Dahinter befanden sich Sudhaus und Lager. Die Gebäude waren aus roten, unverputzten Ziegeln gemauert, die Fenster hoch, die Scheiben eingeschlagen. Am löchrigen, teilweise abgedeckten Dach hing die Dachpappe in Fetzen, darunter lugten marode Balken hervor.
Vicki schulterte ihren Rucksack und stieg die Treppe zur Rampe des Sudhauses hoch.
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