So weit der Wind uns trägt
gleich – gleich grau, gleich unsichtbar für die Jungen.
Marisa rutschte unruhig auf ihrem Stuhl herum. War er eingeschlafen? Sollte sie jetzt lieber gehen? Doch gerade als sie im Begriff war aufzustehen, schaute der alte Mann hoch.
»Ich habe den Knaben nie von nahem gesehen. Und er mich nicht.« Er schüttelte es ab wie einen üblen Traum. »Ach, Mumpitz, es ist bestimmt nur ein verrückter Zufall. Es gibt ja auch Doppelgänger von bekannten Persönlichkeiten, die nicht im Entferntesten verwandt sind mit den berühmten Vorbildern.«
Marisa hatte Mitleid mit dem Mann. Dennoch insistierte sie: »Ja, aber in diesem Fall wäre das eine sehr ungewöhnliche Häufung von Zufällen. Ricardos Mutter, Laura da Costa, kam neun Monate nach Ihrem, ähm, letzten Tête-à-Tête mit Dona Juliana zur Welt. Vielleicht weiß sie ebenfalls nichts von diesen, äh, Verwicklungen. Und Ricardo sieht Ihnen nicht nur sehr ähnlich, er scheint Ihnen auch vom Wesen her zu ähneln. Er ist ebenfalls Pilot, wie Sie wissen.«
»Ein ziemlich schlechter, wenn Sie mich fragen. Das kann er von mir nicht haben.«
Marisa lächelte. Sein Widerstreben, an diese irre Geschichte zu glauben, erinnerte sie so sehr an Ricardo. Meine Güte, die beiden waren sich noch viel ähnlicher, als sie es für möglich gehalten hätte! Ricardo hatte sich ebenfalls gesträubt, ihren Theorien Glauben zu schenken. Erneut griff Marisa in die Handtasche. Sie reichte dem alten Mann die Prägemünze, die sie in der Kiste gefunden hat. Und da, plötzlich, zuckten seine Augen, seine ablehnende Haltung wich einem sentimentalen Ausdruck, der Marisa das Herz zerriss. Was für eine tragische Geschichte! Was für ein Schicksal – die geliebte Frau an einen anderen zu verlieren und erst lange nach ihrem Tod festzustellen, wie viel mehr sie in Wahrheit geteilt hatten. Sie würden sich nie mehr gemeinsam über die Fortschritte ihrer Tochter unterhalten, über die Erziehung des Enkels streiten oder über dessen selbst gebastelte Flugzeuge freuen können.
Marisa fand, dass es an der Zeit war, den armen Mann mit seinen Erinnerungen allein zu lassen. Eines jedoch musste sie noch loswerden. Mit sanfter Stimme sagte sie: »Damals ließ sich eine Vaterschaft nicht genau klären. Wahrscheinlich hat Dona Juliana erst bei Ricardo gemerkt, wer der Vater ihrer Tochter war – und bestimmt hat sie ihre falsche Entscheidung ihr Lebtag bitter bereut. Heute aber gibt es entsprechende Tests. Wenn Sie sich Gewissheit verschaffen wollen, meine ich.«
Doch Fernando brauchte sich keine Gewissheit mehr zu verschaffen. Alles passte. Jujús eilige Hochzeit mit dem anderen Mann, der ihr damals als Ehekandidat vielleicht geeigneter erschienen war; ihre raffinierten Manöver, um ihn nicht in die Nähe des Enkels zu lassen, wozu auch ihre Weigerung gehört hatte, ihm im Alentejo Gesellschaft zu leisten; und nicht zuletzt ihr sonderbares Testament, das vermutlich als ihre letzte Hoffnung in das Aufdecken der Wahrheit zu interpretieren war, einer Wahrheit, die sie ihm nicht hatte offenbaren können, weil sie Angst gehabt hatte, ihn dadurch zu verlieren. Das Puzzle Jujú, das er zu lösen nie imstande gewesen war – da lag es nun als Ganzes vor ihm, ein vollständiges Bild, bei dem kein Teil mehr fehlte und in dem sich jedes Stück perfekt ins andere fügte. Zu spät, dachte Fernando.
Er schluckte seine Trauer herunter und fixierte nun wieder die junge Frau, die sich geräuschvoll an ihrer altmodischen Tasche zu schaffen machte und damit ihren nahenden Aufbruch signalisierte.
»Und Sie sind wirklich die Verlobte von Ricardo da Costa? Sie scheinen mir in einem Alter zu sein, da man längst verheiratet sein und Kinder haben sollte.«
Jetzt war es an Marisa, schockiert zu sein. »Ich bin einunddreißig. Ricardo auch.« Dass sie in einigen Wochen zweiunddreißig wurde, musste sie ja nicht erwähnen.
»Eben.«
»Vielleicht sind einige der jüngeren Entwicklungen an Ihnen vorbeigegangen, aber heute muss man nicht mehr heiraten. Anders als etwa Dona Juliana.« Oje. Den letzten Satz hätte sie nicht sagen dürfen. Sie war hergekommen, um eine Versöhnung zwischen Großvater und Enkel herbeizuführen – und jetzt hatte sie sich den Alten wahrscheinlich ebenfalls zum Feind gemacht.
Doch er lächelte sie an. »Heiraten
müssen
ist ja auch kein Grund zum Heiraten, oder?«
»Nein. Aber nicht heiraten zu müssen ist auch keiner.«
»Ich halte den Jungen trotzdem für einen Schwachkopf. Er hätte Sie längst
Weitere Kostenlose Bücher