So weit der Wind uns trägt
nähmen die Klavierstunden ein abruptes Ende. Und der gute Geraldo auch. Dabei waren die Stunden mit ihm das Einzige, was Isabel ihr ereignisloses Leben in der Provinz als halbwegs erträglich erscheinen ließ.
Seit sie im letzten Jahr aus dem Internat nach Hause zurückgekehrt war, hatte sie um sich herum nichts als Bauerntrampel in unmodischen Kleidern gesehen. Der Blick auf endlose Hügel mit Weizenfeldern, die andere als »goldene Pracht« empfinden mochten, tat ihren Augen weh. Die Schafe, die sich an den Olivenhainen tummelten, oder die Schweine, die unter den Kork- und Steineichen nach Eicheln stöberten, empfand sie als persönlichen Affront gegen ihren verfeinerten Geschmack. Und mit ihren Schwestern konnte sie schon gar nichts anfangen. Ihr Vater hatte völlig recht: Beatriz war eine verknöcherte alte Jungfer, die, wenn sie auch nur ein bisschen Würde an den Tag legen würde, ins Kloster gehen sollte, anstatt sich dem Werben eines Burschen auszusetzen, der weit unter ihr stand; Mariana war fett, träge und so arglos, dass es einem davon speiübel werden konnte; und Jujú, die sie seit deren fünfzehntem Geburtstag in Gegenwart der Eltern immer Juliana zu nennen hatten, war ja noch ein Kind. Eines allerdings, gestand Isabel sich eifersüchtig ein, das ihr bei Geraldo ernsthaft Konkurrenz zu machen schien. Die lüsternen Blicke, die ihr Verehrer Jujú zuwarf, waren ihr durchaus nicht entgangen.
»Ja, die Fortschritte, die Isabel bei Senhor Geraldo macht, sind ganz und gar erstaunlich«, befand Jujú nun mit einem spöttischen Lächeln. Besonders die in Anatomie, fügte sie im Geiste hinzu. Sie hatte die beiden einmal gesehen, wie sie in verkrampfter Umarmung auf der Klavierbank saßen, hatte sich jedoch schaudernd abgewandt, bevor ihre Anwesenheit bemerkt wurde. Von all ihren Schwestern mochte sie Isabel am wenigsten. Nie würde sie verstehen können, warum Isabel, die Hochmütigkeit für eine erstrebenswerte Tugend hielt, ihren vermeintlichen Stolz so weit vergessen konnte, dass sie sich von einem Widerling wie Senhor Geraldo küssen ließ. Genauso wenig konnte sie nachvollziehen, warum Isabel ständig auf Mariana herumhackte und diese bei jeder sich bietenden Gelegenheit drangsalierte. Der heutige Vorfall mit dem Hut war ganz typisch gewesen. »Du dicke Qualle wirst ihn mir nur ausleiern«, hatte Isabel behauptet, und Mariana hatte den Kopf, der natürlich auch keinen größeren Umfang als der von Isabel hatte, vor Scham abgewandt, weil sie wieder einmal mit den Tränen kämpfte. »Wenn Heulen schlank machen würde, wärst du dünn wie ein Streichholz«, hatte Isabel der flüchtenden Mariana nachgerufen, die sich jedoch schon kurz darauf, dank einer Hand voll Pralinen, wieder im Griff hatte.
Warum war Mariana aber auch so ein Naschmaul? Jujú fand es schade, dass der Leibesumfang ihrer Schwester in den letzten Jahren solche Ausmaße angenommen hatte. Sie hätte wirklich hübsch sein können, mit ihrem Kussmund, den großen braunen Augen, dem herzförmigen Gesicht und den herrlichen schwarzen, glatten Haaren, um die sogar sie selbst Mariana manchmal beneidete. Jujús eigenes Haar war gelockt und störrisch und hatte sie schon manches Mal zur Verzweiflung getrieben, weil es sich nur unter größter Mühsal glätten oder zu seidigen Wellen legen ließ.
»Nun ja, meine Fortschritte bei Senhor Geraldo«, griff Isabel nun die süffisante Bemerkung ihrer Schwester auf, »müssen dir ja ›erstaunlich‹ vorkommen – für einige Stücke fehlt dir sicher noch die nötige Reife, liebste Juliana.« Sie legte einen so ironischen Ton in »Juliana«, wie sie es auch bei einem Kind getan hätte, das sie hätte siezen müssen.
Jujú lag eine beißende Antwort auf der Zunge, doch Beatriz kam ihr zuvor. »Von den Kostproben deiner ›Reife‹, Isabel, haben wir alle für heute genug.«
»Das trifft sich ausgezeichnet, da ihr mehr davon auch nicht mehr werdet genießen können.« Damit stand Isabel auf und verließ, ohne die Erlaubnis ihrer Eltern abzuwarten, das Speisezimmer.
»Isabel!«, brüllte José ihr nach, doch das Mädchen ließ sich davon nicht aufhalten.
Dona Clementina legte ihre schmale Hand auf den Unterarm ihres Mannes. »Lass nur. Ich kümmere mich später darum.«
Das egozentrische Wesen ihrer mittleren Tochter war ihr schon immer ein Dorn im Auge gewesen, war jedoch zugleich ein Grund, sich gerade um ihre Zukunft wenig Sorgen zu machen. Isabel war eigennützig und ehrgeizig, zwei Charakterzüge,
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