So weit der Wind uns trägt
Büttenpapier aus Zürichs elegantester Papeterie – all das müssten sie sich dann verkneifen. Ganz zu schweigen von den luxuriösen Etagen, die sie für die Dauer ihrer Aufenthalte in den feinsten Häusern anzumieten pflegten, sei es im Hôtel de Crillon, im Sacher oder im Savoy. Das war einfach unausdenkbar!
»Mãe, Isabel weigert sich, mir ihren grünen Hut zu geben! Dabei hatte sie es mir fest versprochen. Ich habe ihr letzte Woche ja auch meinen gelben Seidenschal geliehen, und …«
»Still!«, wurde Mariana abrupt in ihrem Redeschwall gebremst. Erst jetzt bemerkte die pummelige 16 -Jährige, dass sie anscheinend einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt hatte, um ihre Mutter um Hilfe zu bitten. Ihr Vater schaute sie an, als sei sie ein Gespenst. Um einer Konfrontation aus dem Weg zu gehen, verließ sie den Salon so schnell, wie sie hereingeplatzt war.
In der Halle erwartete Isabel sie mit einem hämischen Gesichtsausdruck. »Das Petzen hat dir wohl nichts als Ärger eingebracht, was?«
»Du eingebildete Pute! Glaub bloß nicht, dass ich dir jemals wieder etwas leihen werde. Und du kannst dir ab sofort auch einen anderen Dummen suchen, der dir deine Aufsätze schreibt. Oder deine Liebesbriefe.« Obwohl Mariana zwei Jahre jünger war als Isabel, hatte sie nicht nur die schönere Handschrift, sondern auch das bessere Sprachempfinden, eine Gabe, mit der sie sich bei ihren Schwestern gerne den einen oder anderen Gefallen erkaufte.
»Was ist denn da drin los?«, wollte Isabel wissen. »Seit wann sitzen Papá und Mamã tagsüber allein vor dem Kamin?«
»Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Wenn du nicht so feige wärst und Angst hättest, dass Mamã dich zwingt, mir den Hut doch zu leihen, würdest du selber hineingehen und fragen.«
»So wichtig ist es nun auch wieder nicht.« Mit einem schnippischen Grinsen drehte Isabel sich um und stolzierte davon.
Marianas Unterlippe zitterte bedenklich. Von allen Menschen auf der Welt schaffte es nur Isabel, sie mit einer kleinen verächtlichen Geste oder einem gemeinen Wort derart aus der Fassung zu bringen. Als sie erneut Stimmengemurmel aus dem Wohnzimmer hörte, vergaß sie jedoch für einen Moment ihren Ärger auf die ältere Schwester. Auf Zehenspitzen schlich sie sich an die Tür und hielt das Ohr daran.
»Prinz Manuel ist gerade einmal 18 «, hörte Mariana ihre Mutter sagen, »so alt wie Isabel. Wenn er ebenso unreif ist wie sie, dann gnade uns Gott.«
Mariana kicherte still vor sich hin. Über die Implikationen des Gesagten verlor sie keinen weiteren Gedanken. Allein die Tatsache, dass ihre Eltern Isabel für unreif hielten, drang in ihr Bewusstsein. Der Nachmittag war gerettet. Der 1 . Februar 1908 würde in ihrem Tagebuch als Festtag gekennzeichnet werden.
Am Abend jedoch war Marianas gute Laune einer betretenen Stimmung gewichen, wie sie die ganze Familie erfasst hatte. Schweigsam saßen alle sechs – Joana lebte seit ihrer Hochzeit im vergangenen Herbst nicht mehr bei ihnen – an der langen, ovalen Tafel. Dona Clementina hatte in ihrem Tischgebet für die Seelen des ermordeten Königs und seines Sohnes gebetet, den lieben Gott darüber hinaus aber auch um Erbarmen gegenüber den verirrten Attentätern angefleht. José Carvalho hatte daraufhin das Gebet mit einem Schlag seiner Faust auf den Tisch unterbrochen, etwas, das noch nie vorgekommen war und seine Frau wie seine Töchter gleichermaßen verunsicherte.
Außer Mariana war allen der Appetit vergangen. Dona Clementina stocherte lustlos in ihrem Essen herum, während ihr Mann sich mit widerwillig verzogenem Gesicht eine Gräte nach der anderen aus dem Mund zog. Nach einigen Bissen hatte er genug davon und legte das Besteck auf den Tellerrand. Die älteste der im Haus lebenden Töchter, die 19 -jährige Beatriz, tat es ihm sofort nach. Sie imitierte ihren Vater ständig, wohl in der Hoffnung, ihm damit zu Gefallen zu sein und von ihrem wenig einnehmenden Äußeren abzulenken. Doch wie sie es auch anstellte, nie war es richtig.
»Iss, Beatriz«, forderte er sie nun auf. »Schlimm genug, dass du so eine große Nase hast. Da musst du nicht auch noch zum Klappergestell werden. So finden wir nie einen Bräutigam für dich.« Mit einem Seitenblick auf die sehr schlanke, drahtige Dona Clementina fügte er hinzu: »Die Männer mögen wohlgerundete Frauen.«
Beatriz schluckte eine wütende Antwort herunter und nahm tapfer ihr Besteck wieder auf.
»Ich kenne wenigstens einen Mann, der Beatriz so
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