So weit der Wind uns trägt
zum Speisezimmer hinter sich zu. In der Halle war es düster, doch Jujú fand auch so den Weg zur Treppe und zu ihrem Zimmer – sie hatte sich oft genug im Dunkeln aus dem Haus geschlichen. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte sie daran, welche Strafpredigt die Dienstboten erwartete, weil sie nicht die Lampen entzündet hatten. Oder hatte Isabel in ihrer Boshaftigkeit einfach das Licht gelöscht? Sie schüttelte diesen Gedanken gleich wieder ab. Was kümmerte es sie?
Leise betrat sie ihr Zimmer. Seit Joanas Hochzeit hatte Mariana deren Zimmer bekommen, und Jujú hatte endlich ihr eigenes Reich. Der Raum hatte sich seitdem völlig verändert. All die Puppen, Spitzenkissen und Schächtelchen, mit denen Mariana sich gerne umgab, waren verschwunden. Ihren Platz hatten jetzt Bücherregale eingenommen, bis auf den letzten Quadratzentimeter angefüllt mit Lyrikbänden, Romanen, Lehrbüchern, Atlanten, religiöser Literatur, Notenheften. Auch einige fremdsprachige Werke waren darunter, desgleichen Fachbücher über Technik, Wirtschaft und Ingenieurswissenschaften. Jeder, der einen Blick auf den Inhalt der Mahagoniregale warf, musste Jujú für eine sehr wissensdurstige junge Dame halten. Doch Gelehrsamkeit war nicht der Grund für die Vielzahl an Büchern. Jujú nutzte vielmehr ihr Privileg, sich so viele Bücher aus Lissabon schicken lassen zu können, um es mit jemandem zu teilen.
Sie setzte sich auf ihr Bett, streifte die Schuhe ab und ließ sich hintenüber auf die Matratze fallen. Sie starrte eine Weile an die Decke. Beten sollte sie. Aber was scherte sie das Gerede über Monarchie und Republik und Umstürze? Außerdem würde das halbe Land heute Nacht für das Seelenheil der Ermordeten beten.
Sie dagegen würde Gott um etwas ganz anderes bitten.
2
J ujú lag mit geschlossenen Augen im Schatten des Olivenbaums. Sie hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt und lächelte versonnen. Fernando kitzelte ihr Gesicht mit einem Grashalm. Er hätte stundenlang damit fortfahren können, hätte sich ewig am Anblick von Jujús gekrauster Nase, ihren leicht zuckenden Lidern und ihren süßen Grübchen berauschen können. Wie oft hatten sie sich hier schon getroffen, wie oft sich diesen harmlosen, verliebten Spielereien hingegeben – und doch glaubte Fernando, dass er nie genug davon bekommen würde. Auf der ganzen Welt konnte es kein hübscheres Mädchen geben, und ein schlaueres schon gar nicht. Deolinda mochte sich einbilden, das begehrteste Mädchen im Dorf zu sein, aber mit Jujú konnte sie es nicht aufnehmen.
»Ah, ich halte das nicht mehr aus, Fernando!« Jujú schlug die Augen auf und fuhr sich mit beiden Händen kräftig durchs Gesicht, um das kribbelige Gefühl hinwegzuwischen. Wie immer, wenn sein Gesicht dem ihren so unerwartet nahe war, durchfuhr sie beim Blick in seine Augen ein kleiner Blitz. Sie waren von einem unvorstellbar reinen Grün, das dank der langen dunklen Wimpern nur umso intensiver leuchtete. Fernandos Augenfarbe war früher, als sie noch jünger waren, den anderen Kindern Anlass für hässliche Spötteleien gewesen. »Wechselbalg« oder »Bastard« hatten sie ihn gerufen, wahrscheinlich nur das dumme Geschwätz von zu Hause wiederholend. In der
aldeia
, im Dorf, hatte es noch nie jemanden mit so grünen Augen gegeben, und die Leute konnten sich diesen Umstand offenbar nur mit einem Seitensprung von Gertrudes Abrantes erklären. Obwohl Fernandos Mutter nicht müde wurde zu erzählen, dass ihr Urgroßvater den Spitznamen »olho verde«, Grünauge, getragen hatte, und obwohl sie eine gottesfürchtige Frau und treusorgende Mutter war, wurde sie den Makel des Verdachtes, eine Ehebrecherin zu sein, nie los.
Neben den Qualen, die Fernando als Kind deswegen auszustehen hatte, nahmen sich die Beleidigungen, mit denen Jujú gelegentlich bedacht worden war, geradezu lachhaft aus. »Dein Vater ist ja gar kein richtiger Mann«, hatten die Kinder gefrotzelt, »fünf Töchter und kein einziger Sohn!« Allzu oft war Jujú das nicht passiert, denn eine der ersten Lektionen der Dorfkinder war gewesen, dem Patrão und seiner Familie nie anders als unterwürfig gegenüberzutreten.
Ach, das war alles lange her. Und die wenige kostbare Zeit, die ihr heute noch mit Fernando blieb, wollte Jujú nicht mit solchen Erinnerungen verschwenden – genauso wenig wie mit störenden Gedanken an eine Zukunft, in der nach dem Willen ihrer Eltern kein Raum für Fernando mehr sein sollte. Sie wollte sich hier und jetzt ihren
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