So weit der Wind uns traegt
Highschool. Mit ein paar Freunden hatte sie den ganzen Tag am See verbracht. Sie waren Wasserski gelaufen, hatten herumgealbert und am Ufer gekocht. Becky Watts hatte die Kamera ihrer Mutter dabeigehabt und Fotos von allen gemacht. Matt hatte Evie gejagt und versucht, ihr einen Eiswürfel in die Bluse zu stecken. Als er sie zu fassen bekam, hatte sie sich energisch gewehrt. Endlich hatte er den Würfel fallen lassen. Er hatte die Hände um ihre Taille gelegt, und sie hatten fröhlich gelacht. „He, Matt!“, hatte Becky in diesem Moment gerufen und auf den Auslöser gedrückt, sobald sie zu ihr hinüberblickten.
Matt – ein großer Junge, der eben erst der Schlaksigkeit seiner Jugend entwachsen war. Eine dunkle Haarsträhne fiel über seine Braue, und seine hellblauen Augen funkelten vergnügt. Er hatte ständig gelacht.
Für sich selbst hatte Evie keinen Blick. Sie sah nur, wie Matt sie hielt. Die enge Beziehung, die sie verbunden hatte, war sogar in diesem unbeschwerten Augenblick zu erkennen. Instinktiv blickte Evie auf den schmalen Goldring an ihrer linken Hand.
Matt. All die Jahre hatte es keinen anderen Mann für sie gegeben. Sie hatte es nicht gewollt und sich emotional so isoliert, dass sie nicht einmal wusste, ob sich jemand näher für sie interessierte. Jetzt war Robert Cannon aufgetaucht und hatte sie mit seinen hellgrünen Augen betrachtet. Obwohl er sich nichts anmerken ließ, hatte sie sein Interesse und seine männliche Ausstrahlung deutlich gespürt. Das und noch etwas anderes, Gefähr licheres.
Robert war sofort gegangen, nachdem er sich die Liegeplätze angesehen hatte. Aber er würde zurückkehren, daran zweifelte sie nicht. Seufzend stand sie auf und trat durch die Flügeltüren hinaus auf die Holzterrasse. Die Sterne spiegelten sich im Wasser, und die warme, würzige Nachtluft hüllte sie ein. Ihr kleines Haus lag direkt am Ufer. Einige Stufen führten hinab zu einem Privatsteg mit ihrem Bootshaus. Sie setzte sich in einen Liegestuhl, legte die Füße auf das Geländer und ließ die Ruhe des Flusses auf sich wirken.
Die Sommerabende in Guntersville waren nicht still. Ringsum zirpten Grillen, quakten Frösche und sangen die Nachtvögel. Fische sprangen aus dem Wasser. Die Bäume rauschten, und der Wind säuselte leise. Es waren heitere Geräusche. Der Mond schien heute nicht, deshalb waren die Sterne am schwarzen Himmel besonders hell.
Ihre nächsten Nachbarn wohnten hinter einer kleinen Landzunge, knapp fünfhundert Meter entfernt. Von ihrem Platz konnte Evie nur die Häuser auf der anderen Seeseite erkennen, die beinahe zwei Kilometer entfernt lag. Der Lake Guntersville war in den Dreißigerjahren entstanden, als dieRegierung versucht hatte, den Tennessee River zu zähmen. Er war ebenso lang wie breit und schlängelte sich unregelmäßig hin und her. Hunderte von winzigen Buchten befanden sich an seinem Ufer, und zahlreiche baumbestandene Inselchen sprenkelten die Oberfläche.
Evie hatte ihr ganzes Leben in Guntersville verbracht. Dies war ihre Heimat. Hier waren ihre Familie, ihre Freunde und ihre weit verzweigten Wurzeln, die beinahe zweihundert Jahre zurückreichten. Sie hatte nie woanders wohnen wollen. Hier lebte sie wie in einer Festung. Aber diese Festung wurde jetzt gleich von zwei Seiten bedroht, und sie würde heftig kämpfen müssen, um sich zu verteidigen.
Die erste Bedrohung war besonders ärgerlich. Landon Mercer führte irgendetwas im Schilde. Sie kannte den Mann nicht näher. Doch sie besaß eine gute Menschenkenntnis, die sie selten im Stich ließ. Mercers aalglattes Wesen hatte sie schon abgestoßen, als er zum ersten Mal ein Boot bei ihr mietete. Zunächst hatte sie keinen konkreten Grund für ihren Verdacht gehabt. Viele kleinere Dinge waren zusammengekommen und hatten sie misstrauisch gemacht. Zum Beispiel, dass Mercer sich immer aufmerksam umsah, bevor er den Anleger verließ. Das wäre vernünftig gewesen, wenn er auf den Schiffsverkehr geachtet hätte. Aber er blickte jedes Mal zum Parkplatz und zum Highway hinüber. Bei seiner Rückkehr waren ihm der Triumph und die Erleichterung so deutlich anzumerken, als hätte er etwas Verbotenes angestellt und freute sich, nicht ertappt worden zu sein.
Auch mit seiner Kleidung stimmte etwas nicht. Mercer gab sich große Mühe, wie ein Angler auszusehen. Aber er schaffte es nicht. Außerdem nahm er zwar Angelzeug mit, benutzte es jedoch nicht. Zumindest kehrte er nie mit einem Fisch zurück, und an seinem Haken hing noch
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