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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Fährmann
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roten Plüschsofa.
    »Warum muss hier immer jemand sitzen?«, fragte Ruth.
    »Es könnten Fremde kommen. Oder Besucher, die sich im Haus nicht auskennen. Und wir Mädchen dürfen auch nicht nach draußen, wann wir wollen. Nur in den Freistunden am Nachmittag können wir das Haus verlassen.«
    »Was ist das für eine Treppe auf der anderen Straßenseite?«, fragte Ruth.
    »Komm, ich zeig sie dir.« Anna öffnete die Eingangstür. Zwei Treppenläufe mit vielen steinernen Stufen führten an beiden Seiten eines Beetes vorbei hinunter zu einem runden Platz.
    »Im Sommer haben bis dort unten Rosen geblüht. Wir spielen manchmal Theater. Die Zuschauer sitzen dann auf den Stufen. Das kleine Haus hinter dem Platz, das ist die Orangerie.«
    »Die was?«
    »Früher war die Orangerie eine Art Wintergarten. Dort konnten die Gäste spazieren gehen und sitzen, wenn es draußen schon kalt und kahl war. Aber jetzt steht dort nur Gerümpel, glaub ich.« Sie gingen in den Pfortenraum zurück. Anna nahm ihr Strickzeug zur Hand und setzte sich in den Sessel. Ruth stand ein wenig verloren da. Düstere Gedanken überfielen sie. Keiner kümmert sich um mich, dachte sie. Irmgard ist froh, wenn ich nicht mehr in diesem Haus bin, Mutter ist weit weg und aus Tante Lene ist auf einmal Frau Brüggen geworden. Sie schniefte und griff nach ihrem Taschentuch.
    Anna legte das Strickzeug in den Schoß. »Musst nicht traurig sein, Ruth. Die ersten Tage sind uns allen schwergefallen. Am besten, du setzt dich auf unser Kummersofa. Die Ecke links ist ein Zauberplatz. Wenn du dich da hinsetzt, geht es dir bald besser.« Sie legte ihren Arm um Ruths Schulter. »Noch ein paar Tage, dann wirst du dich bestimmt heimisch fühlen.«
    Das glaubte Ruth nicht so recht, aber es tat ihr gut, dass Anna mit ihr redete.
    »Wird ein Schal für meine Zwillingsschwester Lydia«, sagte Anna und zeigte Ruth das Strickzeug.
    Ruth wunderte sich. »Hat die auch vorhin mit uns am Tisch gesessen?«
    »Warum fragst du?«
    »Ich hab beim Frühstück kein Mädchen am Tisch gesehen, das so aussieht wie du, Anna.«
    »Es gibt auch Zwillinge, die sich nicht ähnlich sind. Lydia ist die schmale Blonde, die mir gegenübergesessen hat. Du darfst dich nicht wundern, wenn sie dich nicht begrüßt und dir wahrscheinlich auch nicht die Hand gibt. Sie ist, na, wie soll ich sagen, sie zuckt immer gleich zurück, wenn jemand sie berühren will. Aber jetzt darfst du mich nicht mehr stören. Ich stricke ein kompliziertes Muster und muss die Maschen zählen.«
    Es war still im Haus. Die Stricknadeln klapperten leise. Eine Strähne ihres dunkelbraunen Haars fiel Anna immer wieder ins Gesicht und sie warf sie mit einer heftigen Bewegung ihres Kopfs zurück. Die dichten dunklen Augenbrauen und eine senkrechte Falte über der Nasenwurzel ließen Anna älter aussehen, als sie wahrscheinlich war. Ruth wurde schläfrig. Es war eine lange, beschwerliche Fahrt in überfüllten Zügen und ein mühsamer Weg vom Bahnhof bis hinauf zum Quellenhof gewesen. Sie schlief ein. Selbst die Glocke, die zum Mittagessen läutete, hörte sie nicht. Anna musste sie ein wenig an der Schulter rütteln. Ruth schreckte auf.
    »Alarm?«, rief sie.
    Anna stutzte. Alarm? Doch dann fiel ihr ein, wie es in Oberhausen gewesen sein musste. Wenn die Sirenen aufheulten, mussten sie in den Luftschutzkeller. Immer schnell, schnell. Keine Zeit, langsam wach zu werden. »Nein, nein, Ruth. Kein Alarm. Mittagessen. Komm, wir gehen in den Speisesaal.«
    Die Mädchen stellten sich hinter ihre Stühle. Frau Lötsche rief vom Lehrertisch aus: »Guten Appetit«, und die Mädchen antworteten im Chor: »Danke gleichfalls.«
    Alle setzten sich. Nur Ruth blieb stehen. Sie bekreuzigte sich und begann, ein Tischgebet zu murmeln. So war sie es von zu Hause her gewohnt. Einige Mädchen kicherten und Ruth schwieg verlegen.
    Irmgard zupfte an Ruths Jacke und tuschelte: »Setz dich endlich.«
    Auch Frau Lötsche hatte Ruth beten sehen. Nach dem Essen ging sie zu ihr an den Tisch und sagte: »Ich muss später hinüber ins Tannenhaus. Du kannst dann mit mir kommen. Nimm deine Sachen mit. Pünktlich um drei in der Halle.«
    »Ich kann ja den Koffer tragen«, bot Irmgard an.
    »Nein. Ich möchte mit deiner Schwester allein gehen. Wenn du meinst, dass der Koffer für die Kleine zu schwer ist, kannst du ihn ja in der Freistunde schon mal ins Tannenhaus bringen.« Sie ging wieder weg.
    »Ist es im Tannenhaus so ähnlich wie hier, Irmgard?«, fragte Ruth.
    »Na ja.

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