So weit die Wolken ziehen
Das Tannenhaus liegt etwas abseits.«
»Gibt’s da auch fließendes Wasser in den Zimmern?«
»Nein. Die Kinder waschen sich in einem Brunnenhaus. Weißt du, das Tannenhaus war, bevor wir nach Maria Quell kamen, eine einfache Herberge für ärmere Wallfahrer. Aber du wirst dich dort bestimmt wohlfühlen.«
»Schade«, sagte Ruth. »Ich fand das gut, das mit dem Waschbecken im Zimmer.«
»Alles Gewohnheit«, erwiderte Irmgard. »Sei pünktlich um drei in der Halle. Die Lötsche kann biestig sein.«
Schon lange vor der Zeit wartete Ruth auf die Lehrerin. Auf die Minute genau, als von der nahen Kirche her die Glocke drei Uhr schlug, betrat Frau Lötsche die Halle. Ihre Absätze klapperten auf dem Steinboden. Sie trug ein grünes Lodencape. Eine dunkelbraune Pelzkappe bedeckte ihre weißblonden Haare bis auf ein paar Fransen im Nacken und den Pony, der ihr bis weit in die Stirn reichte.
»Also dann«, sagte sie. Mit kurzen, schnellen Schritten ging sie los. Ruth musste sich sputen, um mitzuhalten.
»Ich wollte kurz mit dir sprechen, Ruth Zarski. Heute vor dem Essen habe ich dich beten sehen. Hier wird am Tisch nicht gebetet. Das gilt auch für dich. Für niemanden wird eine Extrawurst gebraten. Wir sind eine Gemeinschaft. Wir wünschen uns Guten Appetit und damit hat sich’s. Keiner tanzt aus der Reihe. Richte dich bitte danach.«
»Meine Mutter hat zu mir gesagt, ich soll das Beten nicht vergessen. Und meine Mutter …«
»Deine Mutter ist in ihren vier Wänden zuständig. Hier bestimmt die Lagerleitung, was zu tun ist. Ich hoffe, wir haben uns verstanden. Klar?« Als Ruth nicht antwortete, fragte sie noch einmal, diesmal lauter und schärfer: »Klar?«
Ruth schwieg.
Frau Lötsche lachte auf. »Na, wir haben es mit deiner großen Schwester geschafft und wir werden auch dich auf Vordermann bringen, du kleiner Dickkopf.«
Die wenigen Häuser in der Nähe des Klosters lagen wie aufgereiht an der Straße. Der Quellenhof war, wenn man von der Kirche absah, das bei Weitem größte Gebäude. Die Straße führte leicht ansteigend am Berghang entlang und verschwand schließlich im Wald. Oberhalb der Straße war ein kleines Haus an den Hang gebaut. Tief im Tal sah man eine größere Zahl von Häusern, in der Mitte die Kirche mit einem Zwiebelturm: das Dorf. Der kleine Bahnhof am Rand des Dorfs war neben der Landstraße die einzige Verbindung in die Stadt, ja sogar nach Wien und weiter in die große, weite Welt. Ruth hätte gern gewusst, was hinter dem Berg war, aber sie traute sich nicht, die Lehrerin anzusprechen. Sie waren schon an den Häusern vorbei, als links ein Schotterweg abzweigte, der zu einem niedrigen holzverkleideten Haus führte, das sich unter ein schweres Dach duckte. Schmale Gauben zogen sich über die gesamte Breite des Daches. Den großen Hof vor dem Haus umgab ein niedriger Holzzaun. Ein Laubengang führte zu einem einstöckigen Nebengebäude mit Flachdach. An einem hohen Mast flatterte eine Hakenkreuzfahne. Frau Lötsche und Ruth betraten den Hof. Die Haustür öffnete sich und die Lagermädelführerin kam ihnen entgegen.
»Heil Hitler, Käthe«, grüßte Frau Lötsche. »Da ist die kleine Zarski. Ihre Schwester hat den Koffer schon hergebracht.« Sie betraten ein winziges Büro.
»Erklär mir doch bitte, Karin, wie wir die Kleine hier im Tannenhaus eingliedern sollen«, sagte Frau Malik.
»Der Direktor hat angeordnet, dass Ruth vorläufig hier mitläuft. Nichts Besonderes also. Am Vormittag geht sie ins Dorf zur Schule. Dort weiß man schon Bescheid.«
»Gut. Ich habe mir gedacht, dass Esther Salm das Kind beim ersten Mal begleiten kann und ihm zeigt, wie man zur Dorfschule kommt.«
»Ja, das reicht vollkommen, Käthe. Verlaufen kann man sich ja nicht auf dem Weg ins Tal. Ich will noch kurz Frau Krase sprechen, damit sie Esther morgen in den ersten beiden Stunden vom Unterricht befreit.«
»Ja, Karin. Ich hole sie her.« Frau Malik fasste Ruth an der Schulter und ging mit ihr hinaus. »Denk daran, Zarski, was ich dir gesagt habe. Keine Extrawurst!«, rief Frau Lötsche ihnen nach.
Die Lagermädelführerin sagte: »Du kannst Käthe zu mir sagen, Ruth. Wenn du nicht zurechtkommst, ich kann dir helfen.«
»Gibt es eigentlich viele Lehrerinnen und Lehrer hier, Käthe?«
»Schon. Vielleicht dreizehn oder vierzehn? Genau weiß ich es selber nicht. Aber die meisten wohnen nicht im Quellenhof oder im Tannenhaus. Die haben ein Privatzimmer im Ort und versorgen sich selbst.«
Das Tannenhaus mit
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