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So wirst du stinkreich im boomenden Asien: Roman (German Edition)

So wirst du stinkreich im boomenden Asien: Roman (German Edition)

Titel: So wirst du stinkreich im boomenden Asien: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mohsin Hamid
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nicht zuständig sind, schweifen weit in die Ferne.
    Euer Lehrer leiert: »Zehn mal zehn, hundert.«
    Die Klasse leiert es nach.
    Euer Lehrer leiert: »Elf mal elf, hunderteinundzwanzig.«
    Die Klasse leiert es nach.
    Euer Lehrer leiert: »Zwölf mal zwölf, hundertvierunddreißig.«
    Eine tollkühne Stimme unterbricht ihn. Sie sagt: »Vierundvierzig.«
    Jähes Schweigen. Die Stimme ist deine. Du hast ohne nachzudenken gesprochen oder mindestens, ohne genügend vorauszudenken.
    Euer Lehrer sagt: »Was hast du gesagt?«
    Du zögerst. Doch es ist passiert. Es gibt kein Zurück mehr.
    »Vierundvierzig.«
    Die Stimme eures Lehrers ist drohend leise: »Warum hast du das gesagt?«
    »Zwölf mal zwölf ist hundertvierundvierzig.«
    »Hältst du mich für einen Idioten?«
    »Nein, Sir. Ich dachte, Sie hätten hundertvierunddreißig gesagt. Ich habe einen Fehler gemacht. Sie haben hundertvierundvierzig gesagt. Es tut mir leid, Sir.«
    Die ganze Klasse weiß, dass der Lehrer nicht hundertvierundvierzig gesagt hat. Vielleicht auch nicht die ganze Klasse. Ein Großteil der Klasse hat gar nicht aufgepasst, sondern von Drachen oder Sturmgewehren geträumt oder Nasenschleim zwischen Daumen und Zeigefinger zu Kügelchen gerollt. Aber ein paar wissen es. Und alle wissen, was nun passiert, wenn auch nicht, welche Form es genau annimmt. Sie schauen jetzt mit fasziniertem Entsetzen zu, ganz wie Seehunde auf einem Fels, wenn ein Weißer Hai nur ein kleines Stück entfernt hinter einem der ihren auftaucht.
    Die meisten von euch sind schon einmal von eurem Lehrer bestraft worden. Du als einer der klügsten Schüler der Klasse hast einige der härtesten Strafen bezogen. Du versuchst, dein Wissen zu verbergen, aber immer wieder obsiegt deine Tollkühnheit und kommt zum Vorschein, so wie eben, und dann ist alles zu spät. Heute greift euer Lehrer in die Tasche seines Kittels, wo er etwas groben Sand aufbewahrt, dann packt er dich am Ohr, wobei der Sand an seinen Fingerspitzen zusätzlich zu dem enormen Druck, den er ausübt, noch Schürfungen hinzufügt, sodass dein Ohrläppchen nicht nur gequetscht, sondern auch wund und ein wenig blutig gerieben wird. Du schreist nicht auf, verweigerst deinem Folterer diese Befriedigung und stellst damit sicher, dass die Bestrafung, die du erhalten hast, ausgeweitet wird.
    Dein Lehrer wollte gar nicht Lehrer werden. Er wollte beim Elektrizitätswerk die Zähler ablesen. Zählerableser müssen sich nicht mit Kindern herumschlagen, arbeiten vergleichsweise wenig, noch wichtiger aber, ihr Korruptionspotenzial ist größer, weswegen sie wohlhabender sind und in der Gesellschaft größeres Ansehen genießen. Zählerableser zu werden war für deinen Lehrer auch gar nicht unerreichbar. Sein Onkel arbeitete im Elektrizitätswerk. Doch die eine Stelle als Zählerableser, die dieser Onkel vermitteln konnte, ging, wie bei den erstrebenswertesten Dingen im Leben unweigerlich der Fall, an den älteren Bruder deines Lehrers.
    Daher konnte sich dein Lehrer, der im Abschlussexamen der weiterführenden Schule nur knapp gescheitert war, aber das Ergebnis hatte fälschen lassen können, mit seinem falschen Ergebnis, einer Bestechungssumme, die sechzig Prozent eines voraussichtlichen Jahresgehalts entsprach, sowie einer guten, wenngleich untergeordneten Verbindung in der Bildungsbürokratie in Gestalt eines Cousins nur die Stelle sichern, die er gegenwärtig innehat. Unterrichten ist nicht gerade sein Lebensinhalt. Es beschämt ihn. Gleichwohl lebt er stets in der kleinen, aber durchaus existenten Furcht, irgendwie überführt zu werden und die Stelle zu verlieren, oder, wenn schon nicht die Stelle zu verlieren, so doch in eine Lage zu geraten, in der er gezwungen ist, eine weitere und noch höhere Bestechungssumme zu bezahlen, um sie zu behalten, und diese Furcht, verstärkt noch durch seine anhaltende Enttäuschung und seine nicht unbegründete Überzeugung, dass die Welt zutiefst ungerecht ist, manifestiert sich in der regelmäßigen Dosis Gewalt, die er den ihm Anvertrauten zukommen lässt. Mit jedem Schlag, so sagt er sich, trägt er dazu bei, dass die Bildung in einen weiteren Dickschädel eindringt.
    Eindringen und Bildung, beides ist im Leben vieler um dich herum verwoben. Beispielsweise in dem deiner Schwester. Sie heult, als du nach Hause kommst. In letzter Zeit wechselt sie mit bestürzender Häufigkeit zwischen unterdrückten, aber kugelförmigen Tränen und ruhiger, blasierter Überheblichkeit. Gerade ist Ersteres

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