So wirst du stinkreich im boomenden Asien: Roman (German Edition)
Umwandlung, in der die stützenden, erstickenden, stabilisierenden Bindungen ausgedehnter Beziehungen schwächer werden, sich auflösen und Unsicherheit, Furcht, Produktivität und Potenzial hinterlassen.
Der Umzug in die Stadt ist der erste Schritt, um stinkreich zu werden im boomenden Asien. Und du hast ihn getan. Herzlichen Glückwunsch. Deine Schwester schaut dich an. Ihre linke Hand stabilisiert das riesige Bündel mit Kleidern und Besitztümern, das sie auf dem Kopf balanciert. Ihre rechte umfasst den Griff eines rissigen, zerbeulten Koffers, der von seinem ursprünglichen Besitzer wahrscheinlich um die Zeit der Geburt eures Vaters weggeworfen wurde. Sie lächelt, und du erwiderst das Lächeln, eure Gesichter kleine Ovale des Vertrauten in einer ansonsten unkenntlichen Welt. Du glaubst, deine Schwester versuche, dich zu beruhigen. Es kommt dir nicht in den Sinn, jung wie du bist, dass sie diejenige ist, die Beruhigung braucht, dass ihr Blick dich nicht sucht, um dich zu trösten, sondern vielmehr wegen des Trostes, den du, ihr einziger, erst vor kurzem wiedergenesener kleiner Bruder, ihr in diesem Augenblick zerbrechlicher Verletzlichkeit zu spenden vermagst.
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VERSCHAFF DIR BILDUNG
Es ist beachtlich, wie viele Bücher in die Kategorie Selbsthilfe fallen. Warum liest du beispielsweise diesen hochgelobten, atemberaubend langweiligen ausländischen Roman weiter, kämpfst dich von Seite zu Seite zu Bitte-aufhören-Seite teerträger Prosa und formaler Überspanntheiten, die einem die Röte ins Gesicht treiben, wenn nicht aus dem Drang, ferne Länder zu verstehen, die wegen der Globalisierung das Leben in dem deinen zunehmend beeinflussen? Was ist dieser dein Drang im Kern, wenn nicht ein Wunsch nach Selbsthilfe?
Und was ist mit den anderen Romanen, denen, die du wegen der Handlung, ihrer Weisheit oder häufigem, überflüssigem und drastischem Sex richtig gut findest und mit freudigem Verlangen liest? Auch das sind doch Versionen von Selbsthilfe. Zumindest helfen sie dir, dir die Zeit zu vertreiben, und Zeit ist ja der Stoff, aus dem das Selbst besteht. Dasselbe gilt für erzählende Sachbücher und erst recht für Fachbücher.
Ja, von jedem Buch, jedem einzelnen, das je geschrieben wurde, ließe sich sagen, dass es dem Leser als eine Form von Selbsthilfe angeboten wird. Lehrbücher, diese Huren, gehören natürlich zu denen, die sich am deutlichsten dazu bekennen, und mit einem Lehrbuch gehst du auch jetzt im Moment, nach mehreren Jahren in der Stadt, die Straße entlang.
Deine Stadt ist nicht als einzelliger Organismus angelegt, mit einem reichen Kern, der von einem Morast aus Slums umgeben ist. Es fehlt ihr an genügend Massenverkehrsmitteln, um all ihre Arbeiter zweimal täglich so zu befördern, wie es eigentlich nötig wäre. Auch fehlt es ihr seit dem Ende der Kolonialisierung vor Generationen an einer Regierungsform, die mächtig genug wäre, um Einzelpersonen in genügender Zahl zu enteignen. Folglich leben die Armen nahe den Reichen. Reiche Viertel sind oftmals nur durch einen einzigen Boulevard von Fabriken, Märkten und Friedhöfen getrennt, die ihrerseits von den Unterkünften der Verarmten vielleicht nur durch einen offenen Abwasserkanal, ein Bahngleis oder eine schmale Gasse geschieden sind. Dein eigenes dreieckiges Quartier ist, nicht untypisch, von allen dreien umgrenzt.
An deinem Zielort angekommen, siehst du ein weiß getünchtes Gebäude mit einer Tafel, die dessen Namen und Funktion verkündet. Es ist deine Schule, und sie ist eingekeilt zwischen einer Bude, wo Reifen repariert werden, und einem Eckkiosk, der den Großteil seiner Einkünfte aus dem Verkauf von Zigaretten bezieht. Bis zum Alter von etwa zwölf Jahren, wenn die Opportunitätskosten der Lohnausfälle bedeutsam werden, gehen die meisten Kinder in deiner Gegend tatsächlich zur Schule. Die meisten, keineswegs alle. Ein Junge deiner Größe arbeitet ohne Hemd in der Reifenreparaturbude. Er mustert dich jetzt, als du vorbeigehst.
In deiner Klasse sind fünfzig Schüler und Hocker für dreißig. Die anderen sitzen auf dem Boden oder stehen. Ihr werdet von einem einzigen hohlwangigen, Betelsaft spuckenden, womöglich tuberkulösen Lehrer unterrichtet. Heute nimmt er mit euch die Multiplikationstabellen durch. Das tut er in einem wirren Singsang, denn sein bevorzugtes, ja einziges pädagogisches Mittel ist erzwungenes Auswendiglernen. Teile seiner Gedanken, die für die Beherrschung von Gewebe und Knochen seines Stimmapparats
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