So wirst du stinkreich im boomenden Asien: Roman (German Edition)
Du folgst dem veränderten Blick deiner Schwester und siehst, dass ein zuvor noch geschlossenes Fenster jetzt offen ist. Darin steht ein großer, kahlköpfiger Mann, der deine Schwester anstarrt. Sie nimmt dir ihr Tuch weg und wirft sich ein Ende über den Kopf, das andere über ihre noch kleinen Brüste.
Sie sagt: »Gehen wir nach Hause.«
Kurz nach dem Umzug eurer Familie in die Stadt hat deine Schwester als Putzmädchen angefangen, da das Einkommen eures Vaters nicht ausreichte, um mit der galoppierenden Inflation der letzten Jahre Schritt zu halten. Man hatte ihr gesagt, sobald euer Bruder, der Mittlere von euch drei verbliebenen Geschwistern, alt genug sei, um zu arbeiten, könne sie wieder zur Schule gehen. In ihren wenigen Monaten in der Klasse hat sie mehr Begeisterung für Bildung gezeigt als euer Bruder in mehreren Jahren. Für ihn ist gerade eine Stelle als Malergehilfe gefunden worden, daher wurde er von der Schule genommen, doch deine Schwester wird nicht statt seiner hingeschickt. Ihre Zukunft ist die Ehe. Sie ist für den Eintritt bestimmt.
Als ihr beide zurückkommt, sitzt euer Bruder im Zimmer. Er ist erschöpft, auf der entblößten Haut von Händen und Gesicht liegt feiner weißer Farbstaub. Auch seine Haare sind davon überzogen, wie vom Puder eines Schauspielers, und er ähnelt einem Jungen bei einer Schulaufführung, der gleich als Mann mittleren Alters die Bühne betritt. Er sieht euch müde an und hustet.
Deine Schwester sagt: »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht rauchen.«
Er sagt: »Ich rauche auch nicht.«
Sie beschnüffelt ihn. »Doch.«
»Der Meister raucht. Ich bin bloß den ganzen Tag mit ihm zusammen.«
In Wahrheit hat dein Bruder schon mehrmals geraucht. Aber besonders gern raucht er nicht, und in dieser Woche hat er es nicht getan. Außerdem ist nicht das Rauchen der Grund, dass er hustet, sondern das Einatmen von Farbdämpfen.
Jeden Morgen überquert dein Bruder die Bahngleise, am Übergang, wenn er offen ist, wenn nicht und wenn der Zug langsam fährt, rennt er schnell mit den Straßenkindern hinüber, für die das ein Spiel ist. Dann fährt er mit dem Bus ins hundert Jahre alte und daher in stadtgeschichtlichen Begriffen weder junge noch alte, nach europäischem Muster angelegte Geschäftsviertel. Dort geht er durch eine Teebude und betritt eine Freifläche, die früher einmal ein öffentlicher Platz in Form eines Trapezes war, jetzt aber wegen der illegal errichteten Gebäude in seinen Zugängen ein allseits umschlossener Hof ist.
Der Hof ist ein Wunder an Mischnutzungsplanung oder, genauer gesagt, Nichtplanung. Die oberen Stockwerke der umstehenden Gebäude beherbergen Familien- und Gewerberäume, die Fremdenzimmer eines heruntergekommenen Hotels, Werkstätten von Schneidern, Stickern und anderen Handwerkern, auch Büros, darunter zwei im Besitz zweier alternder Privatdetektive, die einen beständigen Hass hegen und einander, wie man oft sehen kann, durch ihre Fenster zu beiden Seiten der Schlucht beobachten. Im Erdgeschoss sind die Fassaden der Häuser, das heißt, die Seiten, die nicht auf den Hof gehen, Geschäften und wenig ansprechenden Restaurants vorbehalten. In den Rückseiten dagegen, die auf den Hof gehen, sind kleine Gewerbebetriebe untergebracht, solche, die wegen ihrer akustischen, geruchsbedingten, visuellen oder chemischen Schädlichkeit in einem dicht besiedelten Viertel wie diesem unbeliebt sind und den umschlossenen Hof daher als partiellen Schleier nutzen.
Der Maler, bei dem dein Bruder Gehilfe ist, arbeitet mit Handspritzpistolen, und ihre heutige Arbeit war ein Auftrag von einem Innenarchitekten von beachtlichem Mut und Ansehen. Dein Bruder begann damit, eine Reihe maßgefertigter Bücherregale, noch unlackiert und des Einbaus harrend, von einem kleinen Pritschenwagen abzuladen. Er trug sie mit großer Sorgfalt, wegen ihres Gewichts in kurzen, hüpfartigen Abschnitten, durch die Teebude in den Hof und dann weiter in den Eingang des Malerschuppens. Er klebte Plastikbahnen ans Wellblechdach, womit er Vorhänge schuf, die verhindern sollten, dass Farbpartikel auf andere Gegenstände wehten, die schon lackiert und abholbereit waren. Die Halogenlampen und die Elektroschalter aus gebürstetem Metall, die in die Regale schon eingebaut waren, klebte er mit Zeitungen ab. Nach den Anweisungen des Malers mischte er in Eimern Farben und Grundierung. Er legte Verlängerungskabel aus, damit der Kompressor der Spritzpistole Strom bekam. Dann stellte er
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