So wirst du stinkreich im boomenden Asien: Roman (German Edition)
der Fall.
Du sagst: »Schon wieder?«
»Setz dich auf meinen Schwanz, du kleine Fotze.«
Du schüttelst den Kopf. Du bist zu schwach, um eine angemessene Antwort zu geben, und außerdem zu ausgelaugt, um mit einiger Zuversicht einem ihrer überfallartigen Schläge auszuweichen.
Sie merkt, dass mit dir etwas nicht stimmt. Sie sagt: »Was ist mit deinem Ohr?«
»Lehrer.«
»Dieser Schwesterficker. Komm mal her.«
Du setzt dich neben sie, sie nimmt dich in den Arm und streicht dir übers Haar. Du schließt die Augen. Sie schnieft noch ein-, zweimal, aber vorerst hat sie ausgeweint.
Du sagst: »Hast du Angst?«
»Angst?« Sie zwingt sich zu lachen. »Der sollte Angst vor mir haben.«
Der »der«, von dem sie spricht, ist der Cousin zweiten Grades deines Vaters, zehn Jahre älter als sie, mit dem sie nun verlobt ist. Seine erste Frau ist nach zwei Fehlgeburten bei der Entbindung gestorben, und sogleich wurde ihm die nächste arrangiert.
»Hat er immer noch diesen Schnauzbart?«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn doch seit Jahren nicht gesehen.«
»Er ist riesig. Der Schnauzbart.«
»Weißt du, was man über die Größe des Schnauzbarts eines Mannes sagt?«
»Was denn?«
»Ach, egal.«
»Und? Hast du Angst?«
»Wovor?«
»Keine Ahnung. Davor, dass du wegmusst. Ich hätte Schiss, ganz allein ins Dorf zurückzugehen.«
»Deshalb bist du auch noch ein Junge und ich eine Frau.«
»Du bist ein Mädchen.«
»Nein, eine Frau.«
»Ein Mädchen.«
»Ich blute jeden Monat. Ich bin eine Frau.«
»Du bist eklig.«
»Mag sein.« Sie lächelt. »Aber eine Frau.«
Dann überrascht sie dich. Sie macht etwas, was du mit Frauen von Leibesfülle und Substanz verbindest, nicht mit halben Portionen wie deiner Schwester. Sie singt. Sie singt mit ruhiger, kraftvoller Stimme. Sie singt ein Lied, das die Mütter in eurem Dorf ihren Neugeborenen vorsingen, ein Lied, das auch eure Mutter euch beiden vorgesungen hat. Es ist wie ein Wiegenlied, aber fröhlicher, und es soll den Säugling nicht in Schlaf lullen, sondern vielmehr die Gegenwart der Mutter vermitteln, wenn eine Arbeit sie weg von Berührung oder aus dem Blick führt. Du hast es seit Jahren nicht mehr gehört. Es ist seltsam, es von deiner Schwester zu hören, merkwürdig entspannend und verstörend zugleich. Du lehnst dich an sie, während sie singt, und du spürst, wie ihr Körper anschwillt und erschlafft wie ein Harmonium.
Als sie geendet hat, sagst du: »Komm, wir spielen Fluss.«
»Na gut.«
Ihr beide verlasst den Raum, den eure Familie gemeinsam bewohnt, an Größe ähnlich dem, den ihr in eurem Dorf hattet, aber statt aus Lehm besteht er aus Backstein, und er liegt prekär im dritten und obersten Stock eines wackligen, schmalen Hauses. Ihr rennt die Treppe hinunter und weiter zu einer kleinen, abgelegenen Gasse oder eher Sackgasse, da sie von der Straße abgeht, aber nirgendwohin führt und an drei Seiten von Gebäuden umschlossen ist. Darin liegt auch ein Müllhaufen, hinter dem eine offene Kloake verläuft.
Würde ein Beobachter die Szene durch das Objektiv eines Aufklärungssatelliten auf seinem Kreislauf um die Erde betrachten, sähe er zwei Kinder, die sich eigenartig verhalten. Ihm würde auffallen, dass sie beim Herangehen an den Kanal eine übertriebene Vorsicht an den Tag legen, als flösse darin nicht ein Rinnsal mit Exkrementen unterschiedlicher Viskosität, sondern ein reißender Sturzbach. Zudem stehen die Kinder, obwohl der Kanal seicht ist und mit einem mäßigen Hüpfer übersprungen werden könnte, argwöhnisch auf beiden Seiten und wölben die Hände um den Mund, als schrien sie einander aus großer Entfernung zu. Als Einigkeit erzielt ist, nimmt das eine ein Stück Metall, vielleicht eine weggeworfene Fahrradspeiche, und benutzt es offenbar zum Angeln, wenn auch ohne Schnur und Köder und ohne jede Aussicht, etwas zu fangen. Das andere nimmt einen abgerissenen Streifen braunen Packkartons, lang und schartig, und stößt damit wiederholt zu der Kloake hin. Durchsichtige Schildkröten aufspießen? Unsichtbare Krokodile abwehren? Es ist schwierig, in ihren hektischen Bewegungen einen Sinn zu erkennen. Plötzlich hockt sich das Mädchen hin und mimt die Bewegungen beim Feuermachen. Der Junge ruft ihm etwas zu, worauf es ihm ein Ende ihres Tuchs zuwirft.
Du hältst das Tuch ganz fest. In deinen Händen wird es zu dem Seil, mit dessen Hilfe du den Fluss überqueren wirst. Doch bevor du es tun kannst, bricht der Bann unvermittelt.
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