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So zärtlich war das Ruhrgebiet

So zärtlich war das Ruhrgebiet

Titel: So zärtlich war das Ruhrgebiet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laabs Kowalski
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Andernorts war der Abriss des Alten erst noch geplant,
und leer stehende Häuser stellten einen noch viel abenteuerlicheren Spielplatz
dar. Brachflächen umzirkelten die in den späten Sechzigern aus dem Boden gestampften
Siedlungen und luden  zu
    Erkundungen ein. Eine meiner Erinnerungen: An der Ecke
Rauher Kamp/Evinger Straße in Dortmund-Brechten stand ein altes Fachwerkhaus,
das von seiner Bewohnerin, einer alten schwarzhaarigen Frau, bereits geräumt
worden war. Gemeinsam durchstreiften wir Kinder die teilweise noch möblierten
Räume und demontierten schließlich Teile der Dachrinnen, die noch aus Blei
bestanden, um es einzuschmelzen und aus ihm Figuren zu gießen.
    Eines Nachmittags versammelte
sich, ohne dass es eine Absprache gab, eine große Horde von Kindern in diesem
Haus und begann mit seiner systematischen Zerstörung. Die Scheiben wurden
eingeworfen, Wände durchbrochen, und die gefüllten Einmachgläser, die wir im
Keller entdeckten, gegen die Außenwände geworfen. Nichts hielt unserer
kindlichen Zerstörungswut stand. Doch das eigentlich Bemerkenswerte an dieser
Orgie der Verwüstung war, dass kein vorbeikommender Erwachsener oder etwaiger
Nachbar uns Kinder daran hinderte. Wir wüteten, lustvoll, und niemand, der uns
dabei zusah, sagte: „Seid ihr denn des Wahnsinns? Ihr könnt doch nicht oben auf
dem Dach rumturnen und Dachpfannen runterschmeißen! Seid ihr bescheuert, ihr
Bälger?“
             Fast eine Woche lang wurde das alte Fachwerkhaus
zum Lieblingsspielplatz von uns Kindern, und als eines Tages tatsächlich die
Mitarbeiter einer Abbruchfirma erschienen, gab es für sie nur noch wenig zu
tun. Wir Kinder hatten gründliche Arbeit geleistet.
             Man stelle sich die gleiche Szene heute vor. Eltern,
die zusähen, wie ihre Kinder auf einem Dachfirst herumturnen, würden dabei tausend
Tode sterben. Und warum? Weil sie in der Regel oft bereits um die vierzig  sind
und damit zu alt, um gelassen zu sein. Unsere Eltern dagegen waren jung. Als
ich zehn war, waren meine Eltern dreiunddreißig, und andere Eltern gleichaltriger
Kinder waren noch jünger als sie. Wichtiger aber war: Die Eltern unserer
Jahrgänge hatten als Kinder noch die letzten Kriegsjahre miterlebt, zumindest
aber die Nachkriegsjahre, und selber in Ruinen gespielt. Sie waren damit
beschäftigt, sich ihr Leben aufzubauen und beruflich vorwärts-zukommen. Es war
ihnen eine Mischung aus Langmut und Gleichgültigkeit zueigen. Sie wurden nicht
nervös, wenn ihr Nachwuchs stundenlang fort war und sie nicht wussten, wo ihre
Kinder waren und was sie eigentlich trieben. Wichtig war nur, dass man
pünktlich zum Abendbrot wieder zu Hause war, meist mit unglaublich verdreckter
oder zerrissener Kleidung und mit aufgeschürften Knien, weil man von einem Baum
gefallen oder in ein Bunkerloch gestürzt war, sich in Stacheldraht verheddert
hatte, auf Kohlehalden rumgeklettert oder beim Molche angeln in den Teich
gestoßen worden war. Kindheit war ein aufregendes, täglich neu definiertes
Spektakel, und jeder Tag, jeder Nachmittag schien endlos zu sein. (Exemplarisch
dargestellt scheint mir die 70er-Jahre-Kindheit in der  Fernsehserie
„Vorstadtkrokodile“, die auf einem Jugendbuch des Autors Max von der Grün
basiert,sowie im Spielfilm „Nordsee ist Mordsee“ von Hark Bohm.)
    Zurückblickend mag man sich
bisweilen fragen, wie wir als Kinder überhaupt so lange überleben konnten. Wir
saßen in Autos, die weder mit Sicherheitsgurten noch mit Airbags ausgestattet
waren. Unsere Kindermöbel und Spielsachen waren voller Blei und Cadmium. Beim
Fahrradfahren trugen wir nie einen Helm. Wir aßen Süßigkeiten und wurden
trotzdem nicht zu dick. Wir tranken mit anderen Kindern aus derselben Flasche
und starben nicht nur nicht daran – wir kriegten nicht mal Herpes. Statt
Playstation, Wii, Nintendo und dergleichen mehr hatten wir etwas, das viel,
viel besser war: Geschwister, Spielgefährten, Freunde. Und eine Familie, die
hatten wir auch – eine mit vielen Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen,
Großtanten, Großeltern und anderen, die nicht mit uns verwandt waren, aber
dennoch zur Familie gehörten.
    Auch ich hatte so eine Familie.
Dies hier ist ihre Geschichte, eine Geschichte, die in den 70er Jahren im
Ruhrgebiet spielt.
     
    1965
     
    „Herzflöte, ihr Luschen!“
    Papa strahlte, als er mir diesen
Satz beigebracht hatte. Der erste vollständige Satz, den ich sprach. Mama war
nicht ganz so begeistert.
             Papa

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