So zärtlich war das Ruhrgebiet
Mädchens ja in unmittelbarer Nähe
des Viertels, in dem wir es gefunden hatten, nahe der Ecke
Schützen-/Erwinstraße. Na, denen würde sie schon ordentlich Bescheid stoßen. Die
konnten sich auf was gefasst machen, wenn Mutter sie traf.
Dann kam ihr jedoch in den Sinn,
dass sie tags zuvor versprochen hatte, bei Omma Zarth an den Fenstern für
Gardinen Maß zu nehmen, und da unsere Omma eine ausgesprochen gute Köchin war
und Franziska in den Augen unserer Mutter dringend zunehmen musste, erschien es
nur logisch, den ursprünglichen Plan zu revidieren und zunächst Omma Frieda
aufzusuchen. Ein Glücksfall wie sich zeigte.
„Als hätte ich‘s gewusst!“, rief
unsere Mutter, als Omma Zarth ihr die Schildkröte zeigte, die man bei ihr
abgegeben hatte, weil auch viele Bekannte unserer Großmutter um das große Herz
von Mama wussten.
Omma Zarth aber beugte sich zu
Franziska hinunter und fragte: „Na, wer bist du denn? Hat man dich auch bei
Margret abgegeben?“
„Ihre Eltern sind Rabeneltern!
Die können sich übrigens auf was gefasst machen, die Kleine einfach
unbeaufsichtigt durch die Straßen stromern zu lassen. Leute gibt’s – da fällt
einem schier nix mehr zu ein!“
Vater war nicht gerade entzückt,
als er nach Hause kam und Franziska immer noch vorfand. Er hatte im „Nordlicht“
beim Kartenspielen verloren, außerdem war er hungrig, ohne darauf hoffen zu
können, dass man ihm etwas zu essen aufgespart hatte. Zu allem Ärger war er
beim Hereinkommen auch noch über Hulda, die Schildkröte, gestolpert und mit
viel Krach der Länge nach zu Boden gegangen, was Maunz in Panik versetzte.
Fauchend war sie vom Sofa gesprungen und hatte mit ihrer hektischen Flucht den
Jagdtrieb von Rübe geweckt, der sich sofort an die Verfolgung machte und dabei
etliche Schuhkartons zum Umstürzen brachte. Helmut, der Wellensittich, der
äußerst geräuschempfindlich war, erlitt einen Schock und fiel tot von der
Stange.
„Gib doch acht, Hans-Jürgen!“
rief unsere Mutter und wies uns Kinder an, die Mäuse einzufangen.
Franziska war drei Tage bei uns,
als unser Vater entschied, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er nahm sich
den Freitagvormittag frei, ließ sich von unserer tränenüberströmten Mutter das
Mädchen übergeben und brach, mich und meinen Bruder im Schlepptau, zur
Polizeiwache auf. Auf dem Weg dorthin begegnete ihm sein Bruder Catcher, der
ziemlich guter Laune war. Aufgrund seines Asthmas hatte ihn sein Hausarzt
krankgeschrieben, und er brauchte nicht zur Schicht. Er schlug nun unserem Vater
vor, den Vormittag nicht zu vergeuden, sondern ihm in die Gaststätte „Hafentor“
zu folgen, wo Manna und Bomber, zwei Freunde unseres Onkels, ihn bereits
erwarteten. Statt wie geplant zu dritt Skat, könne man ebenso gut zu viert
Doppelkopf spielen. Er zündete sich eine Roth Händle ohne Filter an und
marschierte hustend voraus. Vater änderte die Richtung und gab Franziska,
meinen Bruder und mich bei Omma Zarth ab, damit wir beaufsichtigt wären.
Omma Zarth wohnte zu dieser Zeit
in einem Haus in der Speicherstraße in unmittelbarer Nähe des Dortmunder Hafens.
Züge, die zwischen dem Hoesch-Eisenwerk und dem Hoesch-Stahlhandel hin und her
fuhren, schleppten sich rasselnd an dem alten Haus vorbei und ließen Wände und
Scheiben vibrieren. Das Fernsehbild begann jedes Mal zu flackern, und um sich
zu verständigen, musste man schreien.
Als unser Vater uns ablieferte,
spielte Omma Zarth mit einer Nachbarin und einer zweiten Frau namens Käthe
Canasta und panierte gleichzeitig Koteletts, damit Bernhard und Heinzi, die noch
immer bei ihr wohnten, wenn sie von der Arbeit kämen, ihr Essen erhielten.
„Nur für `ne Stunde“, sagte unser
Vater, aber es wurden neun Stunden daraus, und wir Kinder schliefen bereits in
Onkel Bernhards Bett, als er kam, um uns zu holen. Weil er uns nicht aufwecken
wollte, setzte Papa sich zu Omma Zarth, Käthe, der Nachbarin sowie Bernhard und
Heinzi an den Tisch, mischte die Karten und stieg ins laufende Spiel ein. Onkel
Catcher war noch im „Hafentor“ geblieben, um mit Manna eine Schlägerei
auszutragen, die unserem Onkel eine Nacht in der Unfallklinik bescherte, wo man
ihn ausnüchterte und seine Schädelplatzwunde vernähte. Als wir ihn anderntags
abholten, lag er in seiner Unterhose auf dem Krankenbett und steckte sich
gerade hustend eine Roth Händle ohne Filter in den Mund. Der Mitpatient
protestierte kurz, in einem Krankenzimmer sei es verboten zu rauchen, aber
niemand
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