Socken mit Honig
acht Jahre alt ist. Diverse
Kisten mit Schulbüchern, Heften und Arbeitsblättern vergangener Schuljahre, die
man vielleicht noch einmal hätte brauchen können, wenn man sie zur passenden
Zeit hätte finden können, sind unter einer dicken Staubschicht begraben. Ohne
sie eines wehmütigen Blickes zu würdigen, werden sie nun endlich ihrer letzten
Ruhestätte, dem Papiermüll, zugeführt.
Nach knapp zwei Stunden bin ich der Meinung, dass Leo mit
dem Rest alleine fertig wird. Doch als ich sein Zimmer verlassen will, murmelt
er etwas wie: „Das verstehe ich jetzt aber nicht …“ vor sich hin. Auf meinen
fragenden Blick hin führt er genauer aus: „Wir haben doch jetzt alles auf links
gedreht, alles Überflüssige weggeschafft und alles andere so gut wie ordentlich
eingeräumt …“ Die Formulierung ‚so gut wie ordentlich‘ lässt mich schmunzeln.
Da ich der Ansicht bin, dass alles, was nicht ordentlich ist, mit nichts
anderem als ‚unordentlich‘ bezeichnet werden muss, denn bei Ordnung gibt es nur
schwarz oder weiß – keine Grauzone – drängt sich mir die Frage auf, was genau
mein Sohn meint. „… und trotzdem habe ich mein Handy nicht gefunden!“, bringt
er seinen Satz zu Ende. Aha, daher weht der Wind! Die Umräum-Aufräum-Wegwerftaktion
war lediglich Mittel zum Zweck. Wahrscheinlich die allerletzte, denkbar
umfassendste Suche nach dem Handy! „Mama“, bittet er so lieb, dass es einen
Stein erweichen könnte, „ich brauche dringend das Handy. Jetzt mach doch was!“
Oh je, da bin ich gefordert, das Unmögliche möglich zu machen. Gibt es eine
Erklärung dafür, dass von mir Wunder erwartet werden? Habe ich ein T-Shirt an, auf
dem steht, dass ich zaubern kann? Ich atme durch, schiebe meine hilflosen
Warum-Fragen bei Seite und beginne, praktisch zu denken. „Ruf das Handy doch
einfach an“, schlage ich vor. „Wenn du das Klingeln hörst, gehst du dem
Geräusch nach, und dein Problem ist gelöst.“ Ein strafender Blick meines Sohnes
trifft mich. „So schlau war ich schon lange, aber der Akku ist wohl leer.
Schließlich vermisse ich das Ding schon seit ungefähr einer Woche.“ Nun ist es
an mir, strafend zu schauen – seit einer Woche! Ich schlucke jedoch die
Vorwürfe hinunter, die mir auf der Zunge liegen, denn Sätze, die mit ‚hätte‘
oder ‚wenn‘ beginnen, bringen uns nicht weiter. „Denk nach“, fordere ich.
„Suchen fängt beim Denken an. Wo hast du dein Handy zuletzt gesehen? Wann und wo
hast du es zuletzt benutzt?“ Stöhnend lässt sich Leo auf seinen
Schreibtischstuhl fallen. „Ich weiß es nicht mehr. Eigentlich habe ich es immer
in meiner Hosentasche.“ Automatisch greift er zu der entsprechenden Tasche.
Verzweifelt stellt er – wahrscheinlich zum 100. Mal – fest, dass sie leer ist.
Ich kann nicht begreifen, wie Leo eine Woche ohne sein Handy auskommen konnte,
wie er so lange warten konnte, bis er eine gründliche Suche anstrengte. Kinder
sind doch heute ohne Handy völlig hilflos. Sie können unterwegs keine Musik
hören, können sich nicht auf WhatsApp mit ihren Freunden unterhalten, können
auf Facebook nichts posten, können keine SMS schreiben – kurzum, sie sind isoliert,
von der Außenwelt abgeschnitten, alle sozialen Kontakte sind tot. Wie konnte
ich nur überleben, mit Freunden kommunizieren, einen Mann finden, ein zufriedener
Mensch werden ohne in meiner Jugend bereits ein Handy besessen zu haben?
„Du musst dich mehr konzentrieren. Dann fällt es dir
bestimmt wieder ein“, versuche ich Leo zum erneuten Nachdenken zu motivieren.
Unerwartet schaltet sich Julia in die Suche ein. Sie hat die Notlage ihres Bruders
erkannt, weiß um die Dringlichkeit eines Handys. „Ich habe mal gehört, dass
Hypnose helfen kann, Sachen wieder zu finden.“ „So ein Quatsch“, entfährt es
Leo. Mir erscheint der Vorschlag nicht allzu abwegig, schließlich erfordern
besondere Umstände besondere Mittel. Ich fordere meinen Sohn auf, sich
entspannt auf den Boden zu legen. Weil er sich dabei affig vorkommt, lege ich
mich solidarisch neben ihn. Julia beginnt sogleich mit beschwörenden Sprüchen.
Wir müssen die Augen zumachen und ruhig atmen, damit wir entspannen können.
„Ich dachte, Hypnose funktioniert mit einem Pendel, das man anschauen muss, bis
man einschläft“, lässt Leo, der sich offensichtlich noch nicht entspannt hat,
nach einer Weile einfließen. Julia kümmert sich nicht um seinen Einwand. „Ihr
müsst einfach an nichts denken, dann klappt das mit dem
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