Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Söhne und siechende Seelen

Söhne und siechende Seelen

Titel: Söhne und siechende Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alper Canıgüz
Vom Netzwerk:
kleinen Zwischenfall begannen sie mir mit Respekt zu begegnen. Momentan verstanden wir uns ganz gut, aber ich weiß, dass sie kein Erbarmen haben würden, sollten sie mich unvorbereitet erwischen. Das waren Typen, denen man nie trauen konnte. Kein Problem, wenigstens spiegelten sie die menschliche Natur realistisch wider. Außerdem waren sie ziemlich fröhliche und lustige Jungs. Manchmal fragte ich mich, ob ihnen bewusst war, dass sie dazu verurteilt waren, im Leben die Verlierer zu sein.
    »Nicht zu fassen!«, schrie Celal der Hänfling, der es nicht schaffte, aus einem halben Meter Entfernung eine von zehn nebeneinander aufgereihten Murmeln zu treffen. Kaum hatte Cemalettin seinen Wurf gemacht, sprang er auf und rannte, wobei er unterwegs die Nase hochzog, in Richtung Murmeln. Offensichtlich befürchtete er, der Hänfling könnte sich mit ihnen aus dem Staub machen. Ich mochte die beiden. Ihre Beziehung fußte auf absolutem Misstrauen. Für beide war es legitim, dem anderen gegenüber jederzeit jede Art von Sauerei zu begehen. Kein Meckern, kein Motzen. Sie hatten etwas, das an Nietzsches Übermenschen erinnerte.
    Mit einem Treffer auf die vorderste Murmel gewann Cemalettin alle Murmeln, und mit einer Technik, die selbst Geier in Begeisterung versetzet hätte, stürzte er sich auf den Boden und sammelte auf einen Streich seine gesamte Beute ein. »Ich spiele nicht mehr, Mann«, meinte der Hänfling und spuckte dabei kräftig aus.
    Das juckte Cemalettin nicht: »Wie du willst.«
    In diesem Augenblick entdeckte mich Celal der Hänfling. »Wie geht’s? Spielst du heute Abend mit?«
    »Klar«, antwortete ich. Ich spiele gern Fußball. Das Spiel deckt meinen Bedarf an physischer Auseinandersetzung. Nach harten Spielen blutüberströmt nach Hause zu kommen ist ein besonderer Genuss. Man fühlt sich wie ein Kriegsheld, und man versteht sehr gut, ob die Essenz vorausgeht oder die Existenz. »Ich bin gekommen, um zu fragen, ob das Spiel feststeht. Vielleicht kann Hakan nicht fort von daheim.«
    »Egal, soll er halt wegbleiben, der Wichser«, meinte Cemalettin. »Willst du Murmeln spielen?«
    »Nein«, antwortete ich. »Ich muss nach Hause. Ich hab was zu erledigen. Wir sehen uns heute Abend.«
    »Nicht zu fassen«, zwitscherte der Hänfling hinter mir her. »Was so ein Zwerg wie du bloß zu erledigen hat?«
    »Ich muss die Welt retten«, sagte ich und schritt von dannen.
    Zu Hause war alles so, wie ich es hinterlassen hatte. Daran war natürlich nichts Befremdliches, aber trotzdem war ich enttäuscht. Während ich von einem Zimmer zum anderen wanderte, blieb mein Blick an den eingerahmten Fotos auf dem Frisiertisch im Schlafzimmer meiner Eltern hängen. Etwa zwanzig Fotos aus dem Leben meiner Mutter, Momente, die sie für wichtig erachtete. Auf zweien war mein Vater abgebildet, auf einem ich. Ich denke, meine Mutter glaubte, sich beim Betrachten der Bilder davon überzeugen zu können, dass sie existierte und etwas erlebt hatte. Was für ein Riesenirrtum! Diese Bilder zerrissen mir das Herz. Sofort verließ ich das Schlafzimmer und ging ins Wohnzimmer. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich einen Tennisball, von dem ich nicht mehr wusste, wo ich ihn herhatte, hin und her warf. Es nützte nichts. Jener bekannte Überdruss machte sich mit aller Gewalt zum Angriff bereit. Mir kam der Gedanke, den Tennisball gegen den Wandteller zu schmeißen, den meine Mutter aus unerfindlichem Grund so sehr liebte. Ich musste unbedingt weniger nachdenken.
    In dem Moment erinnerte ich mich an meine Verantwortungen. Ich sah auf die Uhr: 15 Uhr. Ich hatte genügend Zeit. Schnurstracks begab ich mich in mein Zimmer. Ich zog den Wäschekorb unter dem Diwan hervor und legte mich auf den frei gewordenen Platz.

zwei
du warst so ein netter nachbar, hicabi amca
    Gleich zu Beginn des Spiels kassierten wir ein Tor. Das war aber nicht wichtig. Endlich hatte nun auch ich eine Erwartung an das Leben. Ich erwartete eine ordentliche Flanke. Eine Bananenflanke, die ich aus der Luft nehmen könnte. Wie ein Fuchs schlich ich um den Strafraum und hoffte auf die Chance zum Ausgleichstreffer. Wir machten viel Druck, doch bei jedem Schuss der Yaprak-Sträßler rutschte uns das Herz in die Hose. Hakan hatte nicht kommen können. Wahrscheinlich hatte seine Mutter die Hausaufgaben kontrolliert. Obwohl ich ihn von Anfang an gewarnt hatte, fühlte ich mich doch ein bisschen schuldig. Ich fühle mich nämlich immer schuldig. Das habe ich schon von Geburt an. Aber das

Weitere Kostenlose Bücher