Söhne und siechende Seelen
Erdoğan Bey, sich an mich heranschlich. Ein gedrungener Trottel ohne Hals, dafür mit selbsttönender Brille und einem dünnen Oberlippenbart, der ihm überhaupt nicht stand. Mein Vater hasste den Kerl. Meine Mutter, die im selben Amt wie mein Vater, aber in einer anderen Abteilung arbeitete, musste ihn eingeladen haben. Meine Mutter stand immer gut mit der Autorität. Der Herr Direktor war eigentlich nicht der Typ, der sich herabließ, Einladungen seiner Untergebenen anzunehmen. Er hätte uns nie die Ehre erwiesen, hätte nicht mein Cousin, Dekan an der Universitätsklinik, dafür gesorgt, dass seine hypochondrisch veranlagte Mutter kostenlos durchgecheckt wurde. Mit einem gekünstelten Lächeln strich er mir übers Haupt: »Sag mal, Kleiner, was willst du denn werden, wenn du groß bist?«
»Ich gedenke, die Hölle mit Blumen zu bepflanzen.«
Sofort zog er seine Hand zurück. Dann verduftete er und ließ mich in Ruhe. In einer Ecke fing er mit einem anderen Armleuchter, von dem ich auch nicht wusste, wo er herkam, ein Gespräch an. Ein Kumpel, so der Armleuchter, wolle schon seit Langem Beamter werden, käme aber irgendwie nie durch die Prüfung, weil man immer nur die mit Vitamin B nähme. Bei seinen Schilderungen versäumte der Armleuchter natürlich nicht, einige schmeichelnde Worte einzuflechten. In Erwartung welchen Vorteils auch immer warf Erdoğan Bey sich in die Brust und ließ sich den Namen des betreffenden Schwachkopfs geben: Tuğrul Tanır. Mir drehte sich der Magen um.
Am nächsten Tag schaffte ich es bis mittags nicht aus dem Bett. Ich fand nicht die nötige Kraft, mich der Welt zu stellen. Just in dem Moment, gegen ein Uhr, hörte das Telefon nicht auf zu klingeln. Ich stand also notgedrungen auf und nahm ab. Es war Hakan, der einzige Junge in der Nachbarschaft, gegen den meine Mutter nichts einzuwenden hatte. Er stammte aus gutem Hause. »Wie geht’s?«, fragte er schüchtern.
»Ich war am Schlafen.«
»Ach was! Ich bin vor einer Stunde aus der Schule gekommen.«
»Schön für dich.« Hakan hatte mit der Grundschule angefangen und versuchte mit all der ihm zu Verfügung stehenden Kraft, die Kunst des Lesens und Schreibens zu erlernen. Da er allerdings etwas schwer von Begriff war, schaffte er es irgendwie nicht. Er wollte wohl, dass ich mit ihm übte.
»Komm doch zu uns«, meinte er denn auch. »Meine Mutter hat prima Börek gemacht. Und vielleicht lernen wir auch ein bisschen …«
Ich hatte mächtig Kohldampf, und den Tisch zu decken und wieder abzuräumen war mühsam. Also nahm ich an. Fünf Minuten später war ich bei ihnen. Seine Mutter empfing mich mit übertriebener Freude. Schließlich würde ich ihrem Sohn helfen.
»Geht doch in dein Zimmer, Hakan. Ich bringe euch gleich Tee und Börek. Seid aber nicht zu laut, ich habe die Kleine gerade erst zum Schlafen gelegt.«
Kaum war Hakan im Zimmer, setzte er sich an seinen Schreibtisch, auf dem ein aufgeschlagenes Buch und ein Heft lagen. »Uff, ist das schwer!«
Ich warf einen Blick auf das, was so schwer war. Die Kopie eines Heftchens namens
Oya und Kaya
. Insgesamt acht Seiten. Ein farbenfrohes Bild der beiden dämlichen Kinder am See, auf dem Rücken eines Esels und und in anderen Lebenslagen schmückte die obere Hälfte jeder Seite. Darunter in Riesenbuchstaben fünf, sechs Zeilen Text.
»Und, worum geht’s?«, fragte ich gelangweilt.
»Die Hausaufgaben. Wir sollen die Wörter in Silben unterteilen.«
»Warum fragst du nicht deine Mutter? Das ist doch bestimmt ein Kinderspiel für sie.«
»Sie hat keine Zeit. Sie ist andauernd mit dem Baby beschäftigt«, antwortete er mit säuerlicher Miene. Hakan hatte für seine drei Monate alte Schwester nicht allzu viel übrig.
»Ich weiß nicht, wie man Wörter in Silben unterteilt«, gab ich zurück. Ich wusste es wirklich nicht.
»Du verdammter Lügner! Wie liest du dann diese fetten Bücher?«
»Ich kann lesen, aber Silben trennen kann ich nicht, okay?«
Er war am Boden zerstört. Ich merkte, dass er mir widersprechen wollte, aber in seinem spärlich ausgestatteten Wissensschatz fand der Arme dazu einfach nicht das notwendige Material.
»Du hast Schlaf in den Augen«, fauchte er.
Ich kontrollierte. Er hatte recht. »Ich bin weg, ohne mir das Gesicht zu waschen …«
»Du solltest nie weggehen, ohne dir das Gesicht zu waschen.«
»Warum das denn?«
Der Blödmann wollte mir wohl eine Lektion erteilen und witterte seine Chance. »Weil nachts, wenn man schläft, der Teufel kommt
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