Sofies Welt - Roman über die Geschichte der Philosophie
Jahreszeiten zu verstehen: Im Winter ist die Natur tot, weil Thors Hammer in Jotunheimen liegt. Aber im Frühling kann er ihn zurückerobern. So versuchen die Mythen, den Menschen etwas Unbegreifliches zu erklären.
Aber die Menschen beließen es nicht bei den Erklärungen, wie wir hörten. Sie versuchten auch, in das für sie so wichtige Geschehen einzugreifen: eben durch die verschiedenen religiösen Riten, die mit den Mythen zusammenhingen. So können wir uns vorstellen, dass die Menschen bei Dürre oder einer Missernte ein Drama über den Inhalt des Mythos aufführten. Vielleicht wurde ein Mann aus dem Dorf als Braut verkleidet – mit Steinen als Busen –, um den Trollen den Hammer wieder zu stehlen. So konnten die Menschen etwas dafür tun, dass der Regen kam und das Korn auf den Feldern keimte.
Wie immer es genau gewesen sein mag, fest steht, dass wir viele Beispiele aus anderen Weltteilen dafür haben, dass die Menschen einen »Jahreszeitenmythos« dramatisieren, um die Naturprozesse zu beschleunigen.
Wir haben nur einen kurzen Blick in die nordische Mythenwelt geworfen. Es gab unzählige andere Mythen über Thor und Odin , Frøy und Frøya, Hod und Balder – und über viele, viele andere Gottheiten. Solche mythischen Vorstellungen gab es auf der ganzen Welt, ehe die Philosophen anfingen, darin herumzustochern. Denn auch die Griechen hatten ein mythisches Weltbild, als die ersten Philosophien entstanden. Jahrhundertelang hatte eine Generation der nächsten von den Göttern erzählt. In Griechenland hießen die Gottheiten Zeus und Apollon, Hera und Athene, Dionysos und Asklepios, Herakles und Hephaistos . Um nur einige wenige zu nennen.
Gegen das Jahr 700 vor Christus schrieben Homer und Hesiod große Teile des griechischen Mythenschatzes auf. Das ergab eine völlig neue Situation. Kaum waren die Mythen aufgeschrieben, konnte man nämlich darüber diskutieren.
Die ersten griechischen Philosophen kritisierten Homers Götterlehre, weil die Götter ihnen darin zu viel Ähnlichkeit mit den Menschen hatten. Tatsächlich waren sie genauso egoistisch und unzuverlässig wie wir. Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte wurde ausgesprochen, dass Mythen vielleicht nichts anderes sein könnten als menschliche Vorstellungen.
Ein Beispiel für diese Mythenkritik finden wir bei dem Philosophen Xenophanes , der gegen 570 v. Chr. geboren wurde. Die Menschen, meinte er, hätten sich die Götter nach ihrem eigenen Bild erschaffen: »Doch die Sterblichen wähnen, die Götter würden geboren und hätten Gewand, Stimme und Gestalt ähnlich wie sie selber ... Die Äthiopen stellen sich ihre Götter schwarz und stumpfnasig vor, die Thraker dagegen blauäugig und rothaarig ... Wenn Kühe, Pferde oder Löwen Hände hätten und damit malen und Werke wie die Menschen schaffen könnten, dann würden die Pferde pferde-, die Kühe kuhähnliche Götterbilder malen und solche Gestalten schaffen, wie sie selber haben.«
In dieser Epoche gründeten die Griechen viele Stadtstaaten in Griechenland und in ihren Kolonien in Süditalien und Kleinasien. Hier verrichteten die Sklaven alle körperliche Arbeit und die freien Bürger konnten sich der Politik und der Kultur widmen. Unter diesen Lebensbedingungen machte das Denken der Menschen einen Sprung: Ein einzelnes Individuum konnte nun auf eigene Faust die Frage stellen, wie die Gesellschaft organisiert werden sollte. Auf diese Weise konnte das einzelne Individuum auch philosophische Fragen stellen, ohne auf die überlieferten Mythen zurückgreifen zu müssen.
Wir sagen, es habe damals eine Entwicklung von einer mythischen Denkweise zu einem Denken hin stattgefunden, das auf Erfahrung und Vernunft aufbaute. Das Ziel der ersten griechischen Philosophen war es, natürliche Erklärungen für die Naturprozesse zu finden.
Sofie wanderte durch den großen Garten. Sie versuchte, alles zu vergessen, was sie in der Schule gelernt hatte. Vor allem war es wichtig, das zu vergessen, was sie in den Naturkundebüchern gelesen hatte.
Wenn sie in diesem Garten aufgewachsen wäre, ohne sonst irgendetwas über die Natur zu wissen, wie würde sie dann den Frühling erleben?
Würde sie sich eine Art Erklärung dafür ausdenken, warum es eines Tages plötzlich zu regnen anfängt? Würde sie sich eine Art Verständnis dafür zusammenphantasieren, warum der Schnee verschwindet und die Sonne am Himmel aufsteigt?
Doch, da war sie sich ganz sicher, und sofort fing sie an zu dichten:
Der Winter hatte das
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